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APA/dpa/Alexander Heinl

Anselm Neft beschreibt in „Die bessere Geschichte“ das System sexuellen Missbrauchs

„Die bessere Geschichte“ heißt der neue Roman des deutschen Autors Anselm Neft und handelt von sexuellen Missbrauch und seinen subtilen Mechanismen an einem deutschen Internat Anfang der 90er-Jahre und geht unter die Haut.

Von Daniel Grabner

Es ist das Setting einer recht klassischen Coming-Of-Age Geschichte, das Anselm Neft im ersten Teil seines Romans „Die bessere Geschichte“ etabliert. Der schüchterne, sensible, dreizehnjährige Tilman Weber wechselt wegen schlechter Noten auf ein Internat an die weit entfernte, deutsche Ostseeküste. Die „Freie Schule Schwanhagen“ verspricht ein alternatives pädagogisches Konzept, in dem die Schüler und ihre Interessen im Mittelpunkt stehen. Dort geht es etwas lockerer zu: Lehrer rezitieren am Morgen Ärzte-Songs, der Geschichtsunterricht wird mittels Rollenspiele gestaltet und die Teenager stehlen sich nachts in die nahegelegene Dorfschenke, um dort zu trinken und „Mäxchen“ zu spielen.

Alles ist neu und aufregend. Die Schüler des Internats sind in sogenannten „Familien“ untergebracht, Wohngemeinschaften, die von jeweils zwei Erziehern geleitet werden. Tilman verliebt sich in seine Mitschülerin, die geheimnisvolle Ella und ist überglücklich, als er nach kurzer Zeit im Internat in die „Familie“ der beiden Schulleiter Salvador und Valerie Wieland wechseln darf, nicht zuletzt, weil auch Ella in dieser Familie lebt.

Die subtilen Mechanismen des Missbrauchs

Von Beginn an steht Tilman im Fokus der Aufmerksamkeit des Schulleiters und seiner Frau, von ihnen wird er regelrecht umworben. Salvador lehrt ihm das Fotografieren, und mit dessen Frau Valerie kann Tilman über Literatur diskutieren. Nach und nach bringen die beiden Erwachsenen dem Teenager ihr Weltbild näher: Was vor allem zähle seit man selbst. Die Menschen in der Gesellschaft da draußen mit ihren Regeln, Konventionen und Werturteilen, das seien Schäfchen, die sich weigerten, ihr wahres Potential auszuschöpfen, hinter den Vorhang zu blicken. Die Gesellschaft befände sich in einer „Konsens-Trance“, doch Tilman habe so viel Potential, wenn er nur ihrem Pfad folge, dann stünde ihm eine großartige Zukunft bevor. Dieser Pfad verlange aber auch, „die Grenzen des eigenen Wollens oder Nichtwollens zu überwinden, für ein höheres Gut: eine größere Freiheit“.

Buchcover von Anselm Nefts "Die bessere Geschichte"

Rowohlt Verlag

Die bessere Geschichte von Anselm Neft ist im Rowohlt Verlag erschienen

Schon nach kurzer Zeit wird der Dreizehnjährige in das perfide System der beiden Erzieher hineingesogen. Ein System aus emotionaler Abhängigkeit und sexuellem Missbrauch, den der Junge Tilman auf Grund eines fehlenden Korrektivs von außen nicht als solchen erkennen kann. Es ist dies der erste Teil der Geschichte, in dem man als Leser diese subtilen Mechanismen und Methoden von Missbrauch aus der virtuos beschriebenen Perspektive des Dreizehnjährigen mitbekommt, der nur untergründig fühlt, dass irgendetwas nicht stimmt, es aber nicht adressieren kann. Beim ersten sexuellen Übergriff durch Valerie auf einem „entspannten“ Wochenendausflug sucht Tilman die Gründe für sein Unbehagen bei sich selbst.

„Ich schämte mich, weil ich Valeries Geruch plötzlich nicht mochte. Der Nagellack ihrer Zehen ätzte in meiner Nase, vermischt mit einem aus ihrem Körper strömenden Kümmelgeruch. Dann wieder roch ich gar nichts, stand neben dem Bett und blickte unbeteiligt auf zwei ungleich große Körper.“

Beklemmende Figurenperspektive

Es bleibt nicht bei diesem einen Mal. Sex mit Erwachsenen, Orgien mit Mitschülern unter Drogen im Keller, Urlaube, in denen mit Schülern Pornos gedreht werden, werden zu Tilmans Alltag am Internat. Gerechtfertigt bzw. zur Normalität umgedeutet wird der Missbrauch durch das alternative Wertesystem, das die Erwachsenen um die Schüler errichten und dem sich Tilman nicht entziehen kann. Er beginnt sogar, es vor seiner Freundin Ella als normal zu verteidigen. Als Leser nimmt einen diese Figurenperspektive in eine beklemmende Geiselhaft. Die Traumata, die der Teenager in den Jahren am Internat erfährt, bleiben für ihn im Verborgenen, sind nur als dumpfes Pochen im Unterbewussten spürbar.

Reale Vorlagen: Missbrauchsskandal an der Hessischen Odenwaldschule

Anselm Neft war als Teenager selbst Internatsschüler am katholischen Aloisiuskolleg in Bonn. Anfang 2010 meldeten sich ehemalige Schüler mit Berichten über sexuelle Übergriffe, Grenzverletzungen und Missbrauch durch 23 Mitarbeiter*innen, die hauptsächlich in den 50er- und 60er-Jahren am Gymnasium tätig waren. Als die Vorwürfe 2010 publik werden, erinnert sich Neft in einem Beitrag im Tagesspiegel: „Hörten wir davon, fehlten uns die Worte. War es verdreht, nackte Männer und Jungs auf hoher See verdreht zu finden? Waren wir spießig? Ich sprach damals mit meinem Freund und Mitschüler Stefan Keller darüber. Wir wussten keine Antwort. Wir kannten das Wort „Kinderschänder“, aber wir verstanden es nicht, so wie bis heute viele nicht verstehen, dass Erwachsene Kindern ihre eigene Schande aufbürden, auch ohne brutale Vergewaltigung.“

Im Zuge der Recherche für seinen Roman führte Neft Gespräche mit den Betroffenen des Aloisius Kollegs. Seine Geschichte rückt er aber in die Nähe eines anderen Missbrauchsskandals: In der Odenwaldschule (siehe Aufmacherbild) in Hessen, lange Zeit ein Vorzeigeprojekt der Reformpädagogik, wurden 1998 erste Missbrauchsvorwürfe ehemaliger Schüler laut. Eine Untersuchung 2010 ergab, dass zwischen 1966 und 1991 mindestens 132 Schüler Opfer sexueller Übergriffe geworden sind. Die Haupttäter waren der damalige Schuldirektor und der Musiklehrer. Die Odenwaldschule stellte 2015 den Schulbetrieb ein.

Opfer und Täter – Stigma und Gesellschaft

In „Die bessere Geschichte“ beschäftigt sich Neft nicht nur mit dem System der sexuellen Gewalt. Der zweite Teil des Romans spielt 27 Jahre später. Tilman ist erwachsen und erfolgreicher Autor, als sich seine Jugendliebe Ella nach langer Zeit überraschend bei ihm meldet. Gemeinsam mit ehemaligen Schülern aus dem Internat möchte sie die sexuellen Übergriffe von damals ans Licht bringen. Doch Tilman sträubt sich. Er weigert sich selbst als Erwachsener noch, den Missbrauch als solchen anzuerkennen, argumentiert mit der „Freiwilligkeit“ und mit der Ideologie der Täter.

„Warum ist es dir eigentlich so wichtig, die Wielands zu schützen?“, fragte Ella. „Ich will mich schützen“, sagte ich. „Ich will selbst darüber bestimmen, wie andere meine Biographie sehen. Ihr redet von Übergriffen und seid selbst übergriffig.“ „Aber sie haben deine Jugend und dein Unwissen ausgenutzt“, sagte Ella. „Sie haben deine Bedürfnisse ausgenutzt. Sie haben dich abhängig gemacht.“ Ich lächelte. „Das meine ich mit übergriffig. Du sagst mir, wie ich es sehen soll. Du weißt ganz genau, was ich angeblich empfunden habe."

Neft verhandelt Themen wie Retraumatisierung und Stigmatisierung von Opfern sexueller Gewalt durch die Gesellschaft. Der Erwachsene Tilman glaubt, sich entscheiden zu können, ob er Opfer ist, oder nicht. Er ist der Überzeugung, dass dies eine Frage der inneren Haltung, eine Ansichtssache ist. Doch als Tilman fast selbst zum Sexualstraftäter wird, erkennt auch er, was ihm in seiner Jugend angetan wurde.

„Die bessere Geschichte“ von Anselm Neft blickt auf feinfühlige Weise hinter Schlagwörter wie Missbrauch, Opfer und Täter. Es ist eine ernsthafte und schonungslose Auseinandersetzung, ein spannender Roman, der unter die Haut geht.

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