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Heart of Noise 2019 Impressionen

Heart of Noise

Don’t stop the dance: Das Heart of Noise Festival 2019

Ein Wochenende voll musikalischer Entdeckungen und Erweckungen in Sachen Noise, Pop und avantgardistischer Clubmusik. Live noch mitreißender als erwartet: Dengue Dengue Dengue und Bamba Pana/MC Makaveli. Sehr gut diesmal: Gazelle Twin. Neu ins Herz geschlossen: Andrea Belfi und die polnische Plattensammlerin Kornelia Binicewicz beim Heart of Noise Festival in Innsbruck.

Von Katharina Seidler

„Krise, Krieg, Kult, Chaos“, mit diesen Worten startet das Heart of Noise in sein neuntes Jahr. Seit 2011 bereichert das Festival die alternative Kulturszene von Innsbruck, eine Szene, die wie sich herausstellt, riesig ist. Hunderte Menschen sitzen am Freitagnachmittag in der Sonne auf dem Platz beim Leopoldsbrunnen, als das Team rund um die Opernproduktion „AkhtamarII“, die beim Heart of Noise ihre Uraufführung feiert, die Eröffnungszeremonie übernimmt.

Auf einer begehbaren, von Studierenden der Innsbrucker Architekturklasse entworfenen Kunstinstallation mit dem schönen Namen „Disco Volante“, direkt im Zentrum zwischen Hofburg und Landestheater, befindet sich die Outdoor Bühne des Festivals, auf der von Freitag bis Sonntag der Auftakt zu den Festivalnächten stattfindet.

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Heart of Noise

Andrea Belfi auf der Disco Volante Bühne vor dem Haus der Musik

Das Heart of Noise ist ein Auskennerfestival, das sich auf eine Hundertschar Neugieriger verlassen kann, in diesem Punkt stellt es in Österreich beinahe eine Ausnahmeerscheinung dar. Es ist nicht zuletzt der jahrelangen kulturellen Aufbauarbeit der beiden Festivalgründer Chris Koubek und Stefan Meister zu verdanken, dass alle Konzerte hier, nachmittags outdoor, mittags in der Sound-Tram, auch nachts drinnen und vor dem Saal, bummvoll sind und ausgiebig bejubelt werden, auch wenn in diesem Jahr bei einer empirischen Publikumsbefragung der Grundtenor bezüglich Line-Up lautet: „Ich kenne fast nichts.“

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Heart of Noise

Aus nicht geklärten Gründen spaziert hier ein Haus

Schlagwortketten wie die besagten „Krise, Krieg, Kult, Chaos“ oder „Alles, alles geht uns an“ werden in den doch etwas gar sperrigen Eröffnungsperformances des Heart of Noise Festivals (Stichwort: Pataphysik), courtesy of Marco Tiberius Schaaf, Peter Brandlmayer, Michaela Senn und Crew der „AkhtamarII“-Oper vom Fönsturm verweht, und über die ersten Beats aus dem Schlagzeug des virtuosen Andrea Belfi, ebenfalls auf der gelb-weißen Bootsbühne, freut sich das Publikum wie über einen Bissen Brezel. Allein mit Schlagzeug und Effektgeräten erschafft Belfi zauberhafte und mitreißende Klanglandschaften, an- und abschwellende Wellenberge, und ist somit als Auftaktkonzert für viele gleich die erste musikalische Entdeckung von zahlreichen weiteren im Lauf des Wochenendes.

Die slowenisch-stämmige Komponistin und Experimentalmusikerik Maja Osojnik wird am Samstag ebendort ihre brutalromantischen Liebeslieder in den Abendhimmel schicken und zu Recht freudestrahlend ihr erstes Open Air Konzert hinter sich bringen. Heart of Noise, dieser Festivaltitel passt perfekt zu der Musik von Maja Osojnik, die noch in die unerwartetsten Krach-Explosionen ihr ganzes Herzblut hineingießt.

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Maja Osojnik

Während das Festivalmotto in den vergangenen Jahren mit etwa „Decocooning society“ oder „Dub and the heart of darkness“ Dunkelheit und Diskurs in den Mittelpunkt stellte, setzt das Heart of Noise diesmal mit „Don’t stop the dance“ auf eine luftigere Formel. Ausgelassen getanzt wurde an diesem Wochenende dann erstmals auf der Dachterrasse des Innsbrucker Hotel Adlers bei der bereits traditionellen Rooftop Party. Dort verlegte die polnische Musikauskennerin Kornelia Binicewicz verschollen geglaubte Musikschätze aus der Türkei und Nordafrika aus den 1970er- und 80er-Jahren.

In ausgiebigen Reisen durch die Plattenläden Istanbuls hat sie ein umfassendes Archiv zusammengestellt, für dessen Re-Release sie eigens das Label „Ladies on records“ gründete. In ihrem Set zeigt Binicewicz Verbindungslinien zwischen türkischer Kunstmusik und Psychedelik, zärtlichem Schlager-Pop, algerischem Raï und wave-iger Disco. Hinter ihr das Bergpanorama Innsbrucks inklusive Bergiselschanze, vor ihr eine euphorische Nachmittagsparty, auf der Restaurantterrasse darunter eine Spargelsuppe um 9 Euro (sehr gut). Bei dieser Nummer stehen endgültig alle vom Boden auf.

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Rooftop Party mit Kornelia Binicewicz, hinten zu sehen Bergisel

Architektur tanzen

In seinen neun bisherigen Festivaljahren ist das Heart of Noise nie stehen geblieben. Es ist in die Innsbrucker Clubs und Galerien gegangen, hat Stadtplätze und Hotelbars bespielt, Straßenbahnen und Konzertsäle. Dieses Jahr ist die Hauptbühne erstmals im neu eröffneten, riesigen Kulturzentrum Haus der Musik, einem riesigen Glas- und Steinbau mit großzügigen Treppenaufgängen und Kunstinstallationen in jeder Ecke. In der Dunkelheit eines eigens mit Soundsystem-Türmen ausgestatteten Saales massiert am Festivalsamstag Industrial Legende Drew McDowell das Publikum mit den psychoakustischen Drone-Meditationen seiner Band Coil vor den überwältigenden Videoprojektionen von Florence To.

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Drew McDowell und Florence To

Der wirkliche Zaubertrick des Gebäudes offenbart sich in derselben Nacht beim Set der britischen Musikerin Gazelle Twin. Wer zur Vorstellung ihres aktuellen Albums „Pastoral“ kommt, das sie beim Festival nahezu zur Gänze spielt, reibt sich angesichts der Bühnenkulisse erst einmal die Augen. Die Videowand ist verschwunden, stattdessen tut sich über die gesamte Breitseite ein Glaskasten mit bunt flackernden Bäumen auf. Oder sind es gar die besten 3D-Projektionen der Welt? Irgendwann geht allen ein Licht auf: Das Haus der Musik ist aus Glas gebaut, und für die beeindruckendste Innenraum-Bühnenrückwand wurden einfach die Vorhänge geöffnet. Der vor dem Fenster stehende Baum wiegt sich und leuchtet im Licht der Projektionen. Davor gebärdet sich Gazelle Twin wie eh und je, ihr roter Trainingsanzug inklusive Adidas-Gazelle-Sneakers ist ihr Verkleidung und Rüstung zugleich.

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Gazelle Twin

In ihren früheren Arbeiten, allen voran die Großtat “Unflesh“, verarbeitete Gazelle Twin Träume und Traumata aus ihrer Kindheit, der damals blaue Jogger erinnerte an die verhasste Schuluniform. Heute hat sich ihr Fokus geweitet, in Zeiten nicht mehr zu ignorierender politischer Katastrophen schlüpft Elizabeth Bernholz in die Rolle eines Hofnarren. Dieser nimmt im Weltgeschehen eine erzählende und kommentierende Rolle ein und kann sich durch Kunstgriffe und Augenzwinkern immer wieder der Zensur entziehen. In Anlehnung an die mittelalterlichen Ästhetiken, die Gazelle Twin inhaltlich aufgreift, pustet sie auf „Pastoral“ auch des Öfteren in die Blockflöte. Ehemann Jez schießt dazu Brachialbeats aus dem Laptop, und manchmal brechen Restspuren einer poppigen Melodie durch. Im kompromisslosen Programm des Heart of Noise ist Gazelle Twin mit ihrem nervenzerfetzenden Power Electronics-Pop die Headlinerin des Wochenendes, das kann man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

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Tanz auf dem Vulkan

Am clubmäßigsten und verschwitztesten wurde das Heart of Noise dann am Abschlussabend. Nach einer ordentlichen Portion Seelenkatharsis, dargebracht von Sunn O))-Schreihals Attila Csihar und Merzbow-Drummer Balasz Pandi als Hiedelem, brach das Festival in einer besonders elegant kuratierten Nacht auf zum Streifzug durch die Clubs der Welt, ohne sich irgendwo „World Music“ auf die Fahnen zu schreiben.

Heart of Noise Zanshin

Heart of Noise

Leider verpasst: Am Sonntag hat Zanshin bei einer Straßenbahnrundfahrt durch das Innsbrucker Umland gespielt

In der Outdoor Disco groovt man sich bei dem kenianischen DJ Raph auf die Nacht ein, drinnen spielt das peruanische Duo Dengue Dengue Dengue eines der besten Sets des Wochenendes. Die Masken, mit denen die beiden anonymen Musiker performen, werden in den einmal mehr genialen Visuals aufgegriffen, die die gleichzeitige Klarheit und Buntheit der Tracks wie scharfgestochene Traumbilder widerspiegeln.

In der Musik von Dengue Dengue Dengue gibt es kaum Unschärfen. In gemäßigtem Tempo führen sie peruanischen Cumbia ins digitale Zeitalter, ohne sich zu sehr auf die klischeehafte Ausgelassenheit lateinamerikanischer Musik zu stürzen. Die Bandmitglieder selbst vergleichen ihre Kunst zwar gern mit einem Ayahuasca-Trip, setzen dabei aber nicht auf die psychedelischen Highspeed-Wurmlöcher, die man sich für eine Ayahuasca Dosis vielleicht vorstellt. Eher betonen Dengue Dengue Dengue das Schamanische des Rituals, Gesänge ziehen sich wie leitende gute Geister durch ihre Tracks. Ein symbolhaftes Booking.

Heart of Noise

Daniel Jarosch / Heart of Noise

Dengue Dengue Dengue

Heart of Noise

Daniel Jarosch / Heart of Noise

Dengue Dengue Dengue

Von 103 per Zähler-App gemessenen Beats per Minute bei Dengue Dengue Dengue geht es später in der Nacht zu den knapp 220 von tansanischem Singeli, gespielt und performt von dem Produzenten Bamba Pana und dem MC Makaveli aus Dar-es-Salaam. Ihr Label Nyege Nyege Tapes, beheimatet in Uganda, ist die derzeit höchstgehypte und wichtigste Plattform für contemporary club music aus Ostafrika. Sein Name, Nyege, steht in der in der süd-ugandischen Sprache Luganda nicht zufällig für jenes Gefühl, wenn man plötzlich den unwiderstehlichen Drang zu Tanzen verspürt.

Singeli ist eine Art ostafrikanischer Footwork im Breakneck-tempo. Repetitive Beat-Salven, flackernde Drum Rolls und schwindlig machende Synth-Melodien, über die gelegentlich ein Stakkato-Rap brettert, machen den Stil zur vielleicht, wie der Guardian schreibt, „frenetischsten Clubmusik der Welt“. In all seiner ungestümen Kompromisslosigkeit ist Singeli eigentlich Punk, und Bamba Pana und Makaveli gehen beim Heart of Noise sicher, dass auch kein Milligram Energie verlorengeht. Man verlässt den Saal strahlend, verschwitzt, von oben bis unten mit Weiß Sauer angeleert und um zehn Jahre jünger.

Heart of Noise

Daniel Jarosch / Heart of Noise

Bamba Pana & MC Makaveli

Leider konnte der zweite tansanische Act aus dem Roster von Nyege Nyege Tapes, der großartige Jay Mitta, wegen eines verweigerten Schengen-Visums nicht zum Heart of Noise Festival anreisen. Es ist dies die Schnittstelle, an der die bittere Realität mit der getanzten Utopie des Dancefloors bricht: Das grenzensprengende, völkerverbindende Potential von Musik zerschellt an der Willkür weltlicher Behörden. Es ist zum Heulen.

Dennoch wollen wir das Festivalmotto „Don’t stop the dance“ als Trost und Hoffnung in den Alltag mitnehmen. Eine Veranstaltung wie das Heart of Noise kann in ihrer Sinn- und Identitässtiftenden Funktion, als Motor für ein besseres Leben im Argen, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wir kommen wieder.

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