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Yeasayer

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Perspektive ist alles in Yeasayers „Erotic Reruns“

Die Schnittstelle zwischen Psychedelic, Popmythologie und Wissenschaftsfaszination ist auch auf dem neuen Album „Erotic Reruns“ das Plateau, von dem aus die New Yorker Experimental-Popband Yeasayer ihr Amalgam über uns ergießt.

Von Natalie Brunner

Yeasayer nennen sich auch selbst eine experimentelle Popband, die in der Tradition von im Interview genannten Held*innen wie Cindy Lauper bis David Bowie an experimentellen Sounds interessiert ist, die aber im fertigen Song so klingen, als wäre es die einzig passende Form, zugänglich und immer schon so gewesen. Eine sehr klare Definition des Genres experimentelle Popmusik, die Yeasayer für sich gefunden haben.

Bei Songtiteln wie dem 2016 auf dem Album „Amen & Goodbye“ erschienen „I Am Chemistry“ ist jede/r vom eingefleischtem Druggy bis zur veganen Foodbloggerin sofort aufmerksam. Weil die Frage, die hinter der simplen Behauptung steht, ist eine komplexe, wenn nicht die Grundfrage unserer menschlichen Existenz überhaupt: Was bin ich? Wer bin ich? Was macht mich aus? Mein Wille? Meine Moral? Die chemischen Prozesse die gerade mit oder ohne mein Zutun, mit oder ohne mein Wissen gerade in meinem Körper ablaufen und definieren, was ich gut und schlecht finde, wen ich anziehend und wen ich abstoßend finde?

„I Am Chemistry“, da ist viel drinnen an geistigen Exkursionen. Ich wurde Fan der Band wegen der Nummer „Henrietta“.

Der erste Teil des Texts ist aus der Perspektive von Henrietta Lax formuliert, einer Krebspatientin, die posthum, ohne ihre Einwilligung oder die ihrer Kinder, zum Eigentum der Wissenschaft erklärt wurde und bis heute in gewissen Sinne existiert, weil ihre Zellen am Leben erhalten werden. Es sind die berühmten HeLa Cells.

Im ersten Teil der Nummer hört man die plastisch geschilderten Schmerzen und die Todesangst der sterbenden Frau, dann der Bruch und Perspektivenwechsel. Der Text besteht nur mehr aus einer Zeile „Ohh Henrietta, we can live on forever“, dass so wie ein euphorisches Liebeslied an das Leben selbst daherkommt, oder auch der Größenwahn der Wissenschaftler*innen sein könnte, die es nicht für nötig hielten, eine sterbende schwarze Frau um ihre Zustimmung für die posthume Konfiszierung ihres Körpers im Namen der Wissenschaft zu bitten. Von dem Schmerz und der Gewalt, die hinter dem Weiterleben und Fortschritt unserer Spezies steckt, wird gesungen.

Der Anschluss an „Amen & Goodbye“

„Erotic Reruns“ ist laut Yeasayers Anand Wilder ein Anschluss und keine Fortsetzung des mäandernden Albums „Amen & Goodbye“. Der Albumname „Amen & Goodbye“ war laut Chris wie das Finale einer Fernsehserie. Der Drachen entschwindet mit der toten Heldin in den Klauen am Horizont, wir sitzen da und schauen blöd und wissen nicht, was wir in Zukunft schauen und worüber wir reden sollen. Deshalb, um in Chris’ Metapher der Fernsehsaga zu bleiben, die Reruns mit mehr Erotic.

Ambivalenz prägt auch das neue Album von Yeasayer. Über dem gesamten Album schwebt der böse Geist von Donald Trump und die kindliche Genialität der Tochter von Anand Wilder.

Sie hat beim Jammen die Textzeile „Even though I hate you, I’ll kiss you tonight“ gefunden, aus der der Text zur Nummer „I’ll Kiss You Tonight“ wurde. Er ist aus der Perspektive einer Person geschrieben, die erzürnt und ermüdet von der Ungerechtigkeit des Systems ist, in dem sie lebt, sich zu fügen anstatt noch mehr Gewalt in Form einer dringend fälligen Revolution in die Welt zu bringen.

Albumcover: Yeasayer - "Erotic Reruns"

Yeasayer Records

„Erotic Reruns“ ist auf Yeasayer Records erschienen

„People I Loved“ ist aufgrund einer Frage von Anand Wilders Tochter zu einem Song geworden. Anlässlich des Todes seines Großvaters, zu dem er ein (hier kommt es wieder) ambivalentes Verhältnis hattec fragte das wohl blitzgescheite Kind: „What did you love about him?“ Die Perspektive wechselt zu Chris, dem Autor des Textes: „She asked you to speak. The confusion was settling in.“ Worauf der tote Großvater sich aus dem Jenseits zu Wort meldet, seinen Enkel und Urenkelin nicht weiter sprechen lässt, wie es wohl auch zu Lebzeiten seine Art war:

I never missed a chance to make you feel small
Let you whistle your tune
But decorum matters above all
Why was I was so hard on the people I loved?
Why was I was so hard on the people I loved?
Instead of cutting you off and rollin’ my eyes
I could’ve praised your work, could’ve feigned surprise
At the people I loved
Yeah, at the people I loved

Das ist warscheinlich sehr raffiniertes Songwriting und da kann Anand Wilder im Interview noch so sehr betonen, es gehe nur um die Sounds und alles ist „open to interpretation“.

Mensch kann sich in dem Sound von „Erotic Reruns“ verlieren, aber nimmt man die Witterung einer Textfährte auf, dann lohnt es sich aud jeden Fall, ihr zu folgen. Als Belohnung warten Musical Songs wie „Let Me Listen In On You“, die erste Strophe geschrieben aus der Perspektive geifernder Rechtspolitiker, die plötzlich nicht an den Hebeln der Macht, sondern auf der Straße stehen und sich ihre Mauern, Ausreise-, Konzentrierte- und sonstige Lager sonst wohin stecken können.

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