FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Publikum bei Slipknot

Patrick Wally

Das Nova Rock hat seine Höllenpforten geöffnet

Es ist wieder Zeit für Staub, Dreck, Rock ’n’ Roll: Das Nova Rock im Burgenland hat seine Höllenpforten geöffnet und die Kinder des Zorns herbeigerufen, Pussy Riot, SUM41, Ferris MC oder Slipknot.

Von Alexandra Augustin

Eine Staubwolke bläht sich auf und hinterlässt auf der Haut bronzefarbene Sandpartikel. Ein schneeweißes Riesenrad dreht sich im Winde. Zwei riesige Bühnen ragen aus der malerischen Ebene: Das sind die letzten idyllischen Gedanken für die nächsten vier Tage, noch bevor Gehirn, saubere Unterwäsche und geregelte Verdauungsfunktion sich verabschieden.

Die Pannonia Fields im Burgenland gleichen einer pittoresken Light-Version eines Burning Man-Festivals, sind zumindest auf der Hitze- und Staubskala ebenbürtig. Um das Festivalmotto mit den Worten des großen Lemmy Kilmister einzuleiten: „Eat, drink and be merry, for tomorrow we die. You can be as careful as you want, but you’re going to die anyway, so why not have fun?”

Nova Rock Gelände

Patrick Wally

Auch heuer werden am Nova Rock keine Gefangenen gemacht. Da stehen solide Festivalkapazunder wie Slipknot am Programm, Die Ärzte und Die Toten Hosen schauen vorbei, Papa Roach und Slayer. Auch jüngere KollegInnen wie die Idles und heimische Zeitgenossen wie Cari Cari und Mother’s Cake sind Teil der Festspiele. Und dann noch The Cure!

Dass Rockfestivals im Allgemeinen tendenziell mehr weibliche Musikerinnen auf die Bühnen stellen könnten, ist kein Geheimnis und fällt natürlich beim Blick auf das Line-up auf. Das Nova Rock hat aber zum Glück jedes Jahr auch sehr gute Musikerinnen im Programm. Heuer hat man niemand geringeren als die russische AktivistInnen-Performance-Musikgruppe Pussy Riot gebucht.

Pussy Riot, von Nickelsdorf bis Alabama

Konzerte wie hier am Festival sind für Pussy Riot nicht alltäglich, überhaupt sind Konzerttouren außerhalb von Russland für die Gruppe aktuell die einzige Möglichkeit zu performen. In Russland haben Pussy Riot Auftrittsverbot. Als sie das letzte Mal für einen russischen Club gebucht worden sind, wurde das Konzert von den Behörden unterbunden und der Club geschlossen. Bis heute ist er nicht wiedereröffnet worden. Sechs Musikerinnen von Pussy Riot sind heute hier, machen wie gewohnt Elektropunk und das Publikum feiert mit. Einzig der Sound verläuft sich etwas im Staub. Aber das ist im Kontext der Umstände dieser Performance eher ein geringes Problem, geht es hier ja um mehr als nur um eine Show.

„It sucks to write a song and think: How many years in prison could I get for this?“, hat Pussy Riot-Mitglied Nadya Andrejewna Tolokonnikowa kürzlich in einem Interview mit dem Guardian erklärt. Das Leben in Russland wird immer gefährlicher. Ein regierungskritisches Facebook Posting kann bis zu drei Jahre Gefängnis bedeuten. Erst 2017 wurden die Gesetze bezüglich häuslicher Gewalt in Russland gelockert und das Delikt zur Ordnungswidrigkeit heruntergestuft. Gewalt gegen Frauen und Kinder wird seitdem strafrechtlich nicht mehr verfolgt. Gerade bei einem Festival wie dem Nova Rock zahlt es sich aus, diese Dinge musikalisch zu thematisieren, weil sie viele neue Menschen außerhalb des eigenen Wirkungsspektrums erreichen können.

Im Juli werden Pussy Riot eine Show im US-Bundesstaat Alabama spielen, wo Abtreibung vollständig verboten werden soll. Außerdem spielen sie Ende Juni in New York City am LadyLand Festival: Ein LGBTQ Festival im Gedenken an 50 Jahre Stonewall Riots. Feiern mit Botschaft: Geht sich aus.

Keine Zeitverschwendung bei SUM 41

Sum 41-Sänger Deryck Whibley ist einer dieser Menschen, die auf der Bühne alles geben, aber abseits davon schüchtern wirken. Man sollte die Bühnenpersona niemals mit der Privatperson gleichsetzen. Deryck Whibley ist ein besonnener Mensch, der in Interviewsituationen reflektiert über Dinge spricht. Klar, auch über die guten, alten Zeiten, denn diese Band begleitet ihre Fans immerhin schon über 20 Jahre und hat über 15 Millionen Alben verkauft.

Viele Menschen werden mit den Jahren oft wehmütig, wehleidig oder auch zynisch. „Früher was alles besser, früher war alles gut, die Bewegung hatte noch Wut“, werden Die Toten Hosen dieses Wochenende hier bestimmt auch verkünden. Aber nur der schlechte Pfarrer predigt über sich selbst: Sum 41 verlassen gerne den eigenen Dunstkreis, um die eigenen Konflikte zu überwinden. Sie sind vor Aufnahme der aktuellen Platte drei Jahre konstant auf Tour gewesen, haben sich die Welt angesehen. Und ja, the world is a dark place. Eigentlich wollten Sum 41 gar keine neuen, politischen Songs schreiben. Durch die neuen Blickwinkel auf andere Gesellschaften hat sich jedoch auch viel aufgestaut:

„I definitely don’t think I’m cynical. It’s more like when I’m writing lyrics, I don’t even know what I’m writing, when it comes out. I just start writing words and start figuring them out when I go along. I write as an observer, really, just about what’s going on.“

Am Puls der Zeit bleiben, so unmittelbar: Eine Band, die nach über zwei Dekaden im Business immer noch eine breite Fanbase und diverse Altersgruppen anspricht, macht ziemlich viel richtig. Klar, mit alten Hits wie „Fat Lip“ und „In Too Deep“ kann man auf großen Bühnen auch nicht viel falsch machen.

„For the most part, people seem to go crazy. Our fans like to beat the shit out of each other. For some reason it always happens at our shows! I always hope nobody gets hurt, but if I see somebody getting hurt or falling down I would say something. But our fans seem to enjoy our concerts a lot“.

Ende Juli gibt es eine neue Sum 41-Platte namens „Order of Decline“. Die neue Platte wird übrigens mehr in Richtung Heavy Metal gehen. Sum 41 wollen ihren alten Helden wie Metallica, Slayer und Pantera Tribut zollen. Die neue Single „A Death In The Family“ ist vor drei Tagen erschienen.

Game of Amon Amarth

Olavi Mikkonen

Lisa Schneider

Falls jemand unter permanent schlechter Laune leidet: Bei der Show der Death Metal Band Amon Amarth aus Schweden wird ihm oder ihr geholfen. Pyroshow, kämpfende Wikinger auf der Bühne und ein riesiger Wikingerhelm mit Hörnern, auf dem das Schlagzeug platziert ist. Viel Nebel und viele lange Haare, die synchron im Takt schwingen. Gitarren dröhnen im diabolischem Dreiklang. Noch mehr Haare.

Gitarrist Olavi Mikkonen erwähnt im FM4 Interview, dass man Konzerte wie diese durchaus sportlich nehmen darf:

„When I’m on stage I don’t mind getting hot. You can kinda see it as going to the gym: It’s your workout. Actually, the hotter, the funnier the show!“

Black Metal und Death Metal gelten ja als die letzten Hochburgen einer sich auflösenden Musikwelt. Eigene Paralleluniversen, mit Subwelten und ihren eigenen Fans, die zu Festivals pilgern, von denen die wenigsten außerhalb der Blase etwas wissen. Amon Amarth sind seit 1992 unterwegs, gerne auch mit den norwegischen Kollegen Dimmu Borgir. Der Name Amon Amarth („Schicksalsberg“) ist, wie man sich denken kann, an J. R. R. Tolkiens Werk „Der Herr der Ringe“ angelehnt. Ihre Songs „orientieren sich an Moll-Tonleitern des Quintenzirkels“. Das muss man tatsächlich erst einmal googeln.

Manche nennen ihre Musik „Viking Metal“. Aber call it what you want, denn wie Olavi Mikkonen meint: „When I grew up, there were two sides: You were either a Depeche Mode fan, or you were a fan of Iron Maiden and Judas Priest. Until Rammstein came up: They mixed both sides. I think they were the first ones. Rammstein and Slipknot attracted people from other genres – and nowadays you can have fans listening to pop music and at the same time they will listen to metal the next day“.

Ferris MC macht jetzt Punk

Ferris MC

Jan Hestmann

Alles geht sich aus, egal ob Pop, Hip Hop oder Metal. Auch bei Ferris MC, einem der bekanntesten Rapper im deutschen Sprachraum. Er hat die Formation Deichkind maßgeblich mitgeprägt. Ferris MC, das ist Hip Hop und Rap - besser gesagt - war es. Es gab schon auf der 2015er Platte „Glück ohne Scherben“ Ausflüge in Richtung Rock und Crossover. Nun ist er endgültig dort angekommen.

Anfang des Jahres hat er die neue Platte „Wahrscheinlich Nie Wieder Vielleicht“ veröffentlicht. So unschlüssig der Titel, so geradlinig die Songs, die einen markanten Richtungswechsel markieren. Ferris MC macht nun Punkrock. Er hat sich neu gefunden und ist übrigens ein großer Fan der Ramones. Die Message zählt, nur die neue Art zu performen ist noch etwas ungewohnt.

„Die klassischen Hip-Hop-Bewegungen baue ich irgendwie schon noch immer ein. Aber der Spirit ist bei mir persönlich das Wichtigste. Ich war schon immer eigen, und der Punkspirit war in allen meinen Alben immer igendwie drinnen. Wenn man Ferris MC liest und hört, weiß man nie, was passiert: Das ist wie so eine Wundertüte!“

Die Platte „Wahrscheinlich Nie Wieder Vielleicht“ ist gemeinsam mit den Musikern von Madsen entstanden - Lieder wie „Allianz der Außenseiter“.

„Wenn du nicht ein gecasteter Musiker bist, sondern leicht melancholische Musik machst oder depri-angehauchte Musik oder brutale, aggressive Musik: Viele Musiker, die sowas machen, die wurden alle in der Schule gemobbt. Und man hat sich durch die Musik ein Ventil geschaffen, um sich da raus zu spielen. Ja, ok, ich bin euer Außenseiter, aber genau das feiert die ganze andere Seite! Ich kümmere mich nicht um die, die mich nicht mögen, sondern um die, die das genauso fühlen.“

Aber Ferris muss weiter, zu Slipknot, schauen.

Schwarzes Rauschen bei Slipknot

Katharsis, Aggression, Eskalation: Es ist ein Konzert hart an der Schmerzgrenze, schnell, robust, unbarmherzig. Aber es ist genau diese Grenze zum Aushaltbaren, die Fans von Slipknot vermutlich suchen. Es gibt Theorien zum sogenannten „schwarzen Rauschen“: Das sind Klänge, die wir Menschen nicht mehr hören können, aber körperlich spüren, wie ein Erdbeben. Slipknot sind da sehr nahe dran heute.

„Are you motherfuckers happy to have us back? Are you gonna go fuckig crazy with us?“

Die ganze Band tritt in Masken auf die Bühne, der Boden bebt. Bist du schon am Limit? Allerdings performt die Band bei ihrem ersten Österreichbesuch seit langem mit „Instagram-Filter“-Masken: Beauty 3000, Zoufriya und Blast, die diesen „Plastic Face“-Look suggerieren. Das Verschwimmen von Realität und Fiktion. Der Albtraum, aus dem man nicht aufwachen kann, gepaart mit einem uncanny Cyborg-Look: Slipknot waren schon immer eine Band, die in ihrer eigenen Zwischenwelt operiert hat. Die Abgründe der menschlichen Seele, die Masken, die wir alle tragen, nichts scheint mehr real greifbar. People=Shit.

Sänger Corey Taylor hat kürzlich gemeint, dass er seine Depressionen, unter denen er jahrelang gelitten hat, weggeschrien hat. Glaubt man ihm sofort. Auf der neuen Platte „We Are Not Your Kind“, die im August erscheint, wird dieser Triumph über die persönliche Hölle thematisiert werden. Bei einem Konzert der Band lernt man zu verstehen, wie sich dieser innere Abgrund anfühlen muss.

„Oh, I’ll never kill myself to save my soul
I was gone, but how was I to know?
I didn’t come this far to sink so low
I’m finally holding on to letting go“

Alles rausschreien, um sich zu reinigen. Slipknot beherrschen diese Kunst wie kaum eine andere Band ihrer Art. Was bleibt, ist allerdings keine Zufriedenheit, auch nostalgische Sehnsüchte der Fans lösen sich nicht in Wohlgefallen auf. Es bleibt ein Gefühl der Ambivalenz. Trotzdem, ein würdiges Highlight des Abends - trotz, leider, einigen Soundausfällen. Shit happens, but you need to find a way to deal with it. In diesen Sinne: Goodbye! Bis morgen, Nova Rock, in staubiger Frische.

Diskutiere mit!

Aktuell: