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Kate Tempest

Kate Tempest

Kate Tempest hat ihr neues Album in Malibu aufgenommen

Oder: Wie ein alter weißer Mann Kate Tempest half, ihre innerste Stimme zu finden.

Von Christian Lehner

Viele großartige Pop-Alben haben eine komplizierte, oft abenteuerliche Entstehungsgeschichte (*Räusper* The Beach Boys und „Smile“). Bei „The Book of Traps and Lessons“, dem neuen Album der Schriftstellerin und Poetin Kate Tempest aus London, ist es vor allem eine lange und das hat mit einem alten weißen Mann zu tun. Der hört auf den Namen Rick Rubin und war in den 1980er-Jahren einer der wenigen jungen weißen Männer, die eine zentrale Rolle in der Entwicklung von Hip Hop spielten. Rubin brachte die Beastie Boys vom Hardcore zum Rap, produzierte Run DMC und gründete mit Russell Simmons die Plattenfirma Def Jam Recordings.

Rubin ist, man kann das so überbordend sagen, eine Produzenten-Legende, die mittels extremer Kompression und/oder minimalistischer Soundkulisse wesentlichen Anteil an der Entstehung einiger Popklassiker hatte. So entstanden unter seiner Aufsicht Schlüsselwerke von Slayer, Nine Inch Nails und das würdigste Alterswerk von Johnny Cash, das man sich erträumen konnte.

Der Guru und die Dichterin

Rubin haftet der Ruf eines enigmatischen Gurus an, der in seinem paradiesischen Studiokomplex Shangri La in Malibu, Kalifornien immer wieder für musikalische Erweckungserlebnisse sorgt. Der notorische Vollbarträger brilliert dabei weniger am Mischpult. Als eine Art Sound-Psychologe schafft er es vielmehr, die musikalische Essenz der zu behandelnden Künstler*innen auf Tonträger zu bannen.

„Rick sah eine meiner Spoken-Word-Performances im Fernsehen und griff zum Telefonhörer“, erzählt eine gut gelaunte Kate Tempest im Office ihrer Plattenfirma in Berlin. „Das war 2014 und der Beginn einer langen Geschichte.“ Tempest hatte bis dahin erst ein Album mit ihrem Stammproduzenten Dan Carey (Lily Allen, Hot Chip, Nick Mulvey) aufgenommen. „Everybody Down“ entstand spätnachts in einer Jam-Session. Ich hatte damals kein Geld für einen Produzenten und Studiozeit. Wir legten im Geheimen los, da Dans Manager nicht mochte, dass er mit mir zusammenarbeitet. Dan improvisierte an seinen Geräten und ich am Mikrophon. In einer Nacht war das Ding quasi fertig.“

Kate Tempest

Julian Broad

„Everybody Down“ war ein instinktives Werk, eine fiebrige Spoken-Word-Platte mit politischer Agenda und entsprechend knalligen Sounds und Raps („a fucking rave!“, Kate Tempest). Das Album zündete die Popkarriere der bis dahin als Poetin, Slammerin und Bandmusikerin in Erscheinung getretenen Tempest, die auch (preisgekrönte) Romane und Theaterstücke schreibt. Und dann klingelte das Telefon.

„Dan und ich flogen also nach Malibu, checkten in diesen unwirklichen Ort Shangri La ein und spielten einige Sessions“, so Tempest. „Rick hörte aufmerksam zu und entwickelte eine Vision. Dabei konnte er anfangs gar nicht beschreiben, was er von mir hören wollte. Er wusste aber genau, was er nicht hören wollte (lacht).“ Aus den Sessions wurden erste Demos, die Rubin allesamt nicht zufrieden stellten. „Es war seltsam: Wir kamen zwar zu keiner Übereinstimmung, näherten uns aber doch dem Kern der Sache. Das ist Ricks große Stärke.“

Dann schlug der Terminplan zu. Kate ging auf Tour, schrieb zwei Theaterstücke und einen Roman und nahm mit Dan während dieser Zeit weitere Demos auf. „Rick sagte Nein zum Resultat, aber wir sagten unbedingt Ja, denn diese Demos gefielen uns sehr gut.“

Tracks wie „Europe is Lost“ entstanden 2016, im Jahr des Brexit-Votums und der Präsidentschaftswahlen in den USA, und sollten unbedingt zeitnah erscheinen. Man einigte sich auf einen Kompromiss. Tempest veröffentlichte das Material unter dem Albumtitel „Let Them Eat Chaos“ und landete damit einen großen internationalen Erfolg. Und Rubin? „Rick wartete einfach auf den nächsten Albumzyklus, um die Zusammenarbeit fortzusetzen. „No problem“, war alles, was er dazu sagte.“

Ein Album auf Rap-Diät

Also traf man sich nach einer weiteren Tour erneut. „Habt ihr euch etwas vorgenommen in Sachen Sound?“, will ich von Kate Tempest wissen und sie lacht: „Rick hat mir das Rappen verboten! Ich habe 20 Jahre meines Lebens damit verbracht, Reime und Beats in Einklang zu bringen und plötzlich durfte ich nicht mehr!“

Die Begründung der Rap-Diät: „Rick meinte, dass ich den Flow nicht an den Beat anpassen soll, sondern an das Wort selbst. Sobald ein Hip-Hop-Beat ins Spiel kommt, wird es vom Hörer als Genre wahrgenommen. Das würde in meinem Fall aber zulasten der Lyrics gehen. Ich sollte meinen eigenen Rhythmus finden. Jetzt hatten wir, was wir wollten. Die Lösung ist so simpel. Dumm nur, dass wir fünf Jahre brauchten, um das herauszufinden!“

Selbst das dunkelste Gedicht ist ein Akt der Liebe, weil es ein Gedicht ist

Auch Stammproduzent Dan Carey musste sich umstellen und die Regler runterdrehen. Vom Mischpult wurde er nicht verbannt, der Guru spielte auch in dieser Produktion eher die Rolle des spirituellen Beraters.

Das Resultat ist „The Books of Traps And Lessons“, ein auf das Notwendigste reduziertes Album in Sachen Instrumentierung, Sounds und Arrangements. In der gnadenlos verzweifelten Bestandsaufnahme „All Humans Too Late“ ist nur der Vortrag von Kate Tempest zu hören. Die Phrasierungen der Wörter entsprechen ihrem natürlichen Rhythmus zu sprechen, ein Rhythmus, der wiederum ihre Sprechstimme in bestimmten Passagen des Interviews wie beim Vortrag eines Gedichts erscheinen lässt.

Sendungsbild Interview Podcast

Radio FM4

Das vollständige Interview mit Kate Tempest gibt’s im FM4 Interviewpodcast zum Anhören.

Und so versteht man, auf was Rick Rubin hinauswollte. Die Stimme von Kate Tempest öffnet sich für mehrere Stimmungen und das innerhalb eines Moments. Da ist der gewohnte Furor, den wir aus den ersten beiden Alben kennen. Da ist aber gleichzeitig auch eine bisher ungehörte Verzweiflung und Zerbrechlichkeit.

Diese Mehrdimensionalität sorgt nicht nur für mehr Tiefe, sie korrespondiert auch mit den verschiedenen Figuren, Perspektiven und Zustandsbeschreibungen, die viele Stücke von Tempest charakterisieren und die die Alben miteinander in Verbindung setzen.

Das wichtigste Wort auf „The Book of Traps and Lessons“ ist ein einfaches „but“. Auf die Abrechnung mit den Irrungen des modernen Menschen folgt im nächsten Song „Hold Your Own“ ein relativierendes und Hoffnung stiftendes „aber“ als Auftakt. Die Stimmung hellt sich auf, der Synth geleitet uns in lichte Höhen und Tempest stimmt in den wärmsten Farben ein Plädoyer an für menschliche Stärken wie Liebe und Solidarität.

War in den von Kate Tempest entworfenen Figuren stets bloß ein kleiner Teil von ihr veranlagt, so tritt das biografische Ich am neuen Album nun deutlicher hervor. Etwa wenn die 33-Jährige im Eröffnungsstück „Thirsty“ schildert, wie sie geknickt unter Freunden in einer Bar über einem Glas Whisky sitzt und plötzlich dieser Mensch in ihr Leben tritt und seine Hand auf ihre Schulter legt. Und wenn sie in der betörenden Single „Firesmoke“ beschreibt, wie sehr sie diesen Menschen, ihre derzeitige Lebenspartnerin, liebt.

So kann man Kate Tempest dabei beobachten, wie sie über sich hinauswächst, indem sie ihre innerste Stimme findet. Das kratzt manchmal am Kitsch und bedient das alte Klischee, dass die Liebe die Lösung für so ziemlich alle Probleme ist. Tempest aber meint es ernst. Für sie ist diese menschliche Regung Grundlage einer Kunst, die mehr als das Herz bewegen möchte – gerade auch dann, wenn diese Kunst tief in den Abgrund der Menschheit blickt so wie in dem grimmigen Anti-Rassismus-Song „Brown Eyed Man.“

Was Kunst kann

„Selbst das dunkelste Gedicht ist ein Akt der Liebe, weil es ein Gedicht ist“, sagt Tempest dazu. „Connection is the key! Wir brauchen das Zwischenmenschliche, um nicht in der Isolation abzustumpfen in dieser kapitalistisch zugerichteten Welt, die uns zu tumben Konsument*innen degradieren möchte. Für mich ist es das, was ich im Tanz, im Rap, in der Literatur suche, die Vergewisserung, dass ich am Leben bin und die Kraft der Veränderung, die daraus erwachsen kann.“

Cover Kate Tempest Album "The Book of Traps and Lessons"

American Recordings

War die Formel für das Album erst einmal gefunden, wurde „The Book of Traps and Lessons” innerhalb weniger Live-Sessions im Shangria La Studio eingespielt. „Wir haben das Album in England einstudiert und sind dann wieder rüber zu Rick“, erzählt Kate Tempest. „Wir haben es zweimal pro Tag in voller Länge aufgeführt: am Montag, am Dienstag und am Mittwoch und am Mittwoch war es dann auch schon im Kasten.“

Good Job, Kate, Dan and Rick.

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