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Dankesplakat an Wähler mit Porträt von Erdogan

APA/AFP/Yasin AKGUL

Wie die Bürgermeister-Wahl in Istanbul die gesamte Türkei verändern könnte

Diesen Sonntag wählen die 10,5 Millionen wahlberechtigten Bewohner*innen von Istanbul einen neuen Bürgermeister. Bei der Wahl geht es inzwischen aber um das gesamte Land.

Von Ali Cem Deniz

Er ist der mächtigste Mann des Landes und steht an der Spitze des Staates. Und trotzdem bekommt man in diesen Tagen den Eindruck, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am liebsten für das Amt des Bürgermeisters von Istanbul kandidieren würde. Erdoğan ist in Istanbul geboren und aufgewachsen, sein unerwarteter Sieg bei der Bürgermeisterwahl von 1994 hat nicht nur die Metropole, sondern das ganze Land auf den Kopf gestellt.

Seither galt Erdoğans Aufstieg als unaufhaltsam. Vom Bürgermeister zum Ministerpräsidenten und schließlich zum Staatsoberhaupt. So viel Macht wie Erdoğan hatte kaum jemand in der türkischen Geschichte, dennoch konnte er nicht verhindern, was am 31. März dieses Jahres passierte.

Eine herbe Niederlage

An dem Tag hat Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP den Kandidaten von Erdoğans Regierungspartei AKP bei der Istanbul-Wahl geschlagen. Bis dahin war İmamoğlu eine relativ unbekannte und nicht all zu charismatische Figur, die eher wie ein gewöhnlicher Parteifunktionär als wie ein leidenschaftlicher Politiker wirkt.

Die AKP hingegen hat alles auf Binali Yıldırım gesetzt. Der ist zwar auch kein begnadeter Redner, der die Massen verführt, aber abgesehen von Erdoğan ist der Ex-Ministerpräsident der prominenteste Politiker der Türkei.

Der Bürgermeisterkandidat für Istanbul der CHP, Ekrem Imamoglu

APA/AFP/Yasin AKGUL

Ekrem İmamoğlu von der Oppositionspartei CHP

Dass die AKP überhaupt so schwere Geschütze auffahren musste, zeigt, dass sie selbst von einem knappen Rennen ausging. So ist es auch gekommen. Oppositionskandidat İmamoğlu setzte sich tatsächlich durch – allerdings nur mit hauchdünner Mehrheit. Er bekam 130.000 Stimmen mehr als der AKP-Kandidat Yıldırım. Während Yıldırım selbst zunächst zurückhaltend auf das Ergebnis reagierte, begann Erdoğan vermeintliche Unregelmäßigkeiten bei der Wahl anzuprangern. Die Wahlbehörde hat schließlich den Wahlwiederholungsantrag der AKP angenommen. Erdoğan bekam eine zweite Chance. Vielleicht wäre es für ihn besser gewesen, wenn er sie nicht bekommen hätte.

Der Frust steigt

In den letzten Jahren wurde in der Türkei sehr oft gewählt. Zwischen Volksabstimmungen, Präsidentschafts-, Parlaments- und Kommunalwahlen befindet sich das Land seit Jahren im Dauerwahlkampf. Und diese Wahlkämpfe spielen sich immer nach demselben Muster ab: Jede Wahl wird zu einer historischen Entscheidungsschlacht erklärt, bei der es um alles oder nichts geht. Bei diesem Spiel macht nicht nur die Regierung mit, sondern auch die Opposition. Anders ausgedrückt: In der Türkei gibt es keine nicht-populistische Partei. Alle sind auf maximale Mobilisierung angewiesen, was sich auch in der hohen Wahlbeteiligung widerspiegelt.

Jubelnde CHP Anhänger

APA/AFP/Adem ALTAN

Die Bedeutung von Istanbul als wirtschaftliches und kulturelles Zentrum der Türkei ist nicht zu unterschätzen. Dass Erdoğan jetzt auch eine Bürgermeisterwahl in ein historisches Ereignis verwandelt hat, kommt aber bei vielen nicht gut an. Die Umfrage-Werte von İmamoğlu sind deutlich gestiegen. Am Sonntag könnte er mit einem großen Vorsprung gewinnen, der nicht mehr anfechtbar ist. Eine Niederlage bei einer Wahlwiederholung, die sie selbst forciert hat, wäre für die AKP eine Katastrophe.

Absurder Wahlkampf

Nicht zuletzt deshalb wurde der Istanbul-Wahlkampf von Woche zu Woche intensiver und absurder. Beide Kandidaten haben begonnen, nicht nur in Istanbul, sondern im ganzen Land Wahlkampf zu machen. Oppositionskandidat İmamoğlu sorgte mit einem Auftritt in seiner Heimatstadt Trabzon einerseits für Begeisterung unter den Regierungsgegner*innen, aber auch für Verwirrung. Der unter Druck geratene AKP-Kandidat Yıldırım hingegen schlug ein TV-Duell vor.

Was in den meisten Ländern üblich ist, ist in der Türkei eine Rarität. So kam es nach 17 Jahren zur ersten TV-Debatte überhaupt. Unter dem Titel „Historische Konfrontation“ sprachen die zwei Kandidaten an einem überdimensionierten Diskussionstisch weniger über Istanbul und mehr über die gesamte Türkei. Auch wenn die Diskussion den hohen Erwartungen nicht gerecht wurde und nicht wirklich Spannung erzeugte, haben Millionen im gesamten Land die Sendung mitverfolgt.

Wende für Erdoğan

In den letzten Tagen betrat schließlich auch Erdoğan den Wahlkampf, um dem schwächelnden Yıldırım den Rücken zu stärken. Der zukünftige Bürgermeister von Istanbul wird freilich nicht die Geschicke des gesamten Landes lenken. Doch eine Niederlage in Istanbul könnte einen Trend bestätigen, den die AKP in den letzten Jahren kaum stoppen konnte. Von Wahl zu Wahl wird sie schwächer. Die Unter-35-Jährigen kann sie kaum noch erreichen und das nicht ohne Grund.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist stark angestiegen. In der jungen türkischen Bevölkerung kommen mit jeder Wahl neue Wahlberechtigte dazu, die unter Erdoğans AKP-Regierungen aufgewachsen sind. Die Zahl derer, für die AKP als alternativlos gilt, wird hingegen weniger. Allein mit ihnen kann die AKP die massiven Siege der Vergangenheit nicht mehr wiederholen. Erdoğans Aufstieg könnte dort enden, wo er einst angefangen hat. In Istanbul.

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