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„Das melancholische Mädchen“ als Mensch gewordene Marionette des Kapitalismus

In „Das melancholische Mädchen“ verhandelt die Schriftstellerin, Musikerin und Neo-Filmemacherin Susanne Heinrich das Scheitern der Liebe in Zeiten des Neoliberalismus und zeigt die junge Frau als Mensch gewordene Marionette von Konsum und Kapitalismus.

Von Anna Katharina Laggner

„Als junge Schriftstellerin rezensiert zu werden, ist das Bescheuertste, weil man sehr viel für seine Äußerlichkeiten rezensiert wird. Das hat mir zugesetzt, ich konnte jahrelang nicht schreiben“, sagt Susanne Heinrich. Heute ist sie Mitte dreißig, hat vier Bücher geschrieben, beim Bachmannpreis gelesen und zahlreiche Stipendien zuerkannt bekommen. Die Äußerlichkeit, das ist aber auch das, was ins Auge sticht, wenn man die Autorin von 2005 und die Regisseurin von 2019 vergleicht. Damals, in Klagenfurt beim Bachmannpreis, ist sie mit weißer Perlenkette und weißem Blazer aufgetreten, das schwarze lockige Haar wuschelig quer über der Stirn.

Heute hat sie die Haare kurz geschoren, man sieht sie auf den Fotos auf ihrer Website rauchend und mit einem Revolver in der rechten Hand. Nach einer ausgewachsenen Schreibblockade und dem vorläufigen Ende einer schriftstellerischen Karriere - „man kann davon eigentlich, oder auch uneigentlich, nicht leben“ - hat sie beschlossen, sich über den Umweg des Bildes wieder zum Schreiben „zurückzutricksen“.

Mit ihrem ersten Film „Das melancholische Mädchen“ zielt sie in poetischer Präzision auf die bereits vorhandenen Wunden der industrialisierten Welt. Ihr Film ist eine Komödie, handelt aber von Depression, die, wie Susanne Heinrich sagt, zwar als Volkskrankheit bezeichnet, aber dennoch immer dem Individuum zugeschrieben wird. Stattdessen müsste man Depression als strukturelles Problem sehen

Frau sitzt auf einem Sofa mit vielen Barbies

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„Auf diesem Körper des melancholischen Mädchens treffen sich die ganzen Diskurse und wüten da herum, sie ist eine schöne, junge, opake Frau, in die man alles hineinlesen kann, deswegen verkörpert sie das Leiden der Gesellschaft an sich selber“, sagt Filmregisseurin Susanne Heinrich.

In der Anfangsszene sieht man eine junge Frau von der Seite, sie trägt einen weißen Pelzmantel, darunter nichts. Sie steht vor einer Südseetapete mit türkis schimmerndem Wasser, neben ihr steht eine Leiter, sie raucht und redet. Darüber, dass, wenn dies ein Film wäre, bereits jetzt der Teil des Publikums, das sich identifizieren möchte, verloren wäre. Denn: „Melancholischen Mädchen passiert nichts.“

Es gibt also in diesem Film keine Handlung, nur eine Frau auf der Suche nach einem Schlafplatz. Sie landet bei einem Mutter-Baby-Aufmerksamkeits-Achtsamkeits-Kurs und einem Werbecasting, in einer schwarzen Badewanne mit einem Mann, nackt in der Küche eines anderen Mannes, der ihr das Schreien beibringen möchte, mit einem Sex-Verweigerer in einer Kunstausstellung. Susanne Heinrich verbraucht viele Männerfiguren, um die zwischenmenschlichen Rollenklischees aufzublasen und durchzuexerzieren.

Der Titel des Films bezieht sich auf den Text „Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens“, das in den Nullerjahren vom anonymen französischen Kollektiv Tiqqun veröffentlicht worden ist. Diese Theorie besagt, dass die junge Frau von heute alles Menschliche verloren hat und stattdessen sämtliche Zwänge der Konsumgesellschaft verkörpert.

Alle Schauspielerinnen und Schauspieler sollten für den Dreh von „Das melancholische Mädchen“ vergessen, was sie gelernt hatten, und wie sprechende Möbel agieren, ihren Text gleichgültig und gleichförmig aufsagen, direkt in die Kamera schauen. Fast der ganze Film ist im Studio entstanden, er ist in Kapitel unterteilt, die Namen tragen wie „Die Gewalt der Liebesmärchen“ oder „Versprechen der Freiheit“, es gibt eigens komponierte und von der Melancholischen Mädchenband interpretierte Songs.

„Es ist kein Emotionskino, kein psychologischer Film“, sagt Susanne Heinrich. Als sie das Drehbuch fertig hatte, hat sie festgestellt, dass man die darin enthaltenen Dialoge nicht naturalistisch sprechen kann, also hat sie sich am Verfremdungseffekt von Bert Brecht orientiert.

Mann und Frau sitzen in einem Schaumbad

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Susanne Heinrich: „In dem Film sind Inhalt und Form untrennbar. Die Politik liegt in der Formensprache, und das ist nicht nur so verpackt, weil ich das grad lustig finde, dass Leute so verfremdet sprechen, sondern weil es mir darum ging, unseren neoliberalen Alltag, unser neoliberales Einerlei so zuzuspitzen, dass es komisch wird.“

Das Publikum soll sich nicht emotional identifizieren können – Protagonistin heult, wir heulen auch – sondern, ganz im Gegenteil, quasi distanziert werden, um „sich überhaupt ein Jenseits dieser vorgeführten Zustände vorstellen zu können“. Zustände einer Welt, die alles bietet und auf diese Weise Zugehörigkeiten zwischen Menschen, die alles haben wollen, verunmöglicht.

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