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Ekrem Imamoglu lässt sich von Tausenden Anhängern und Anhängerinnen feiern

APA/AFP/Republican People's Party (CHP) Press Service/Onur GUNAL

So hat Erdogan zu seiner Niederlage beigetragen

Bei der Wiederholung der Bürgermeisterwahl in Istanbul konnte die Opposition erneut gewinnen, dieses Mal sogar mit massivem Vorsprung. Der für viele irritierende Wahlkampf von Erdogans AKP hat zu diesem Erdrutschsieg beigetragen.

Von Ali Cem Deniz

Recep Tayyip Erdogan verliert bei Wahlen nicht oft, doch am vergangenen Sonntag hat er dieselbe Wahl zum zweiten Mal und noch sehr viel deutlicher verloren. Um diese Niederlage bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl, die für viele absehbar war, zu verhindern, hatte Erdogan alle Register gezogen. Es kam zum ersten TV-Duell seit 17 Jahren – und das auf einem oppositionsnahen Sender. Erdogan selbst gab Binali Yildirim, dem Kandidaten seiner Partei AKP, Rückendeckung. Der letzte seiner Schachzüge verwirrte schließlich sogar viele der eigenen Wähler*innen.

Wenige Tage vor der Wahl wurde ein Brief von PKK-Gründer Abdullah Öcalan veröffentlicht. Der seit 20 Jahren auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierte Öcalan lebt weitgehend isoliert. Seine Anwält*innen durften ihn seit 2011 nicht besuchen. Erst im Mai dieses Jahres änderte sich das. In seinem Brief rief Öcalan nun die kurdischen Wähler*innen auf, bei der Istanbul-Wahl „unparteiisch“ zu bleiben. Die riesige kurdische Community galt vor der Wahl als Königsmacherin. Öcalans Brief hätte zum Joker werden sollen.

Die kurdische Arbeiterpartei PKK wurde 1978 von Abdullah Öcalan gegründet. Seit 1984 führt sie Krieg gegen den türkischen Staat und ist verantwortlich für zahlreiche Anschläge. Im Konflikt zwischen PKK und dem Staat sind über 40.000 Menschen getötet worden.

Dass Erdogan und seine ultra-nationalistischen Koalitionspartner mit PKK-Gründer Öcalan die kurdischen Wähler*innen für sich gewinnen wollten, brachte für viele das Fass zum Überlaufen.

Vom Friedensprozess zum Krieg

Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs ist in Vergessenheit geraten, dass Erdogan einst selbst einen Friedensprozess mit der kurdischen PKK gestartet hatte. Bis 2011 schien es so, als könnte die Türkei den blutigsten Konflikt ihrer Geschichte hinter sich lassen.

Mit dem Krieg im Nachbarland wurden die Karten neu gemischt. Die Erfolge der kurdischen Kräfte in Syrien sah die türkische Regierung als Gefahr für ihr eigenes Territorium. Aus Angst vor einem möglichen kurdischen Staat wurde der Friedensprozess mit der PKK beendet und die Türkei beteiligte sich offiziell am syrischen Bürgerkrieg.

Während die aktive PKK-Führungsriege sich ebenfalls vom Friedensprozess distanzierte und das Kriegsbeil wieder ausgrub, versuchte sich PKK-Gründer Öcalan aus dem neu entfachten Konflikt herauszuhalten. Trotz seiner Inhaftierung und nahezu vollständiger Isolierung hat Öcalan als Symbolfigur der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung einen großen Einfluss auf das politische Geschehen in der Türkei.

Die Königsmacher*innen

Mit seinem Einfluss wollte Erdogans AKP die kurdischen Wähler*innen, die sie durch die türkische Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg massenweise verloren hat, wieder zurückgewinnen. Lange Zeit haben Kurd*innen in der Türkei nicht nur die pro-kurdische HDP, sondern auch die AKP gewählt. Mit dem Friedensprozess und prominenten kurdischen Parteimitgliedern hatte die AKP vor allem islamisch-konservative Kurd*innen angesprochen.

Im Laufe des Bürgerkriegs in Syrien hat sich jedoch zunächst die Rhetorik, dann die Politik der AKP gegenüber den Kurd*innen verändert. Statt weiter auf die größte Minderheit der Türkei zuzugehen, schlug Erdogan türkisch-nationalistische Töne an. Als sie schließlich eine Allianz mit der ultra-nationalistischen MHP einging, verschreckte sie ihre letzten kurdischen Wähler*innen.

Sie wendeten sich mit überwiegender Mehrheit der HDP zu, die wiederum eine Allianz mit der CHP einging, die Ekrem Imamoglu ins Rennen um das Amt des Bürgermeisters von Istanbul schickte und gewann. In einer letzten verzweifelten Aktion versuchte die Regierung mit dem Öcalan-Brief die Wahlniederlage zu verhindern.

Der Vorsprung der Opposition ist von 13.000 Stimmen auf über 800.000 angewachsen. Die AKP hat es nicht geschafft, die kurdischen Wähler*innen zurückzugewinnen, und hat zudem selbst nationalistische Wähler*innen abgeschreckt: Erdogans AKP wurde auch in konservativen Bezirken von der Opposition geschlagen.

Die AKP steckt fest

Die AKP steckt nicht nur in der Krise, sondern in der Vergangenheit fest. Zum Höhepunkt des Friedensprozesses hätte die Öcalan-Karte der AKP die nötige Unterstützung gegeben, ohne dabei nationalistische Wähler*innen zu verlieren. Nach dem Syrien-Krieg, dem Putsch-Versuch von 2017 und mit dem Übergang zum Präsidialsystem hat sich das Image der AKP und allen voran Erdogans jedoch massiv verändert. Die Regierung selbst scheint das nicht wahrgenommen zu haben.

Erdogan ist heute nicht mehr der Außenseiter aus der Arbeiter*innenschicht, der 1994 überraschend Bürgermeister von Istanbul wurde. Er ist im Zentrum der etablierten Macht und nun gibt es andere Außenseiter*innen wie den neuen Bürgermeister von Istanbul.

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