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TddL Bachmannpreis Impressionen 2019

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„Ein hochtourig laufendes Fabriklein“

Die Wordmaschinerie in Klagenfurt produziert in den ersten beiden Tagen eine sprühende Vielfalt an Geschichten. Eine unvollständige Auswahl der bisherigen Highlights.

Von Daniel Grabner

Zehn Autor*innen haben’s hinter sich bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Der Rahmen des bedeutendsten Literaturwettbewerbs im deutschsprachigen Raum zeigt sich wie auch schon in den letzten Jahren unverändert: der sonnendurchflutete Garten des Landesstudios, Heurigenbänke, Literaturbetriebspersonal und Literaturaficionados beim Public Viewing, Josef Winkler streift mit am Rücken verschränkten Händen still durch den Garten. Eine kleine Flasche Mineral am Buffet kostet noch immer 3,20,- und wie eh und je stellt sich der Feuilleton Fragen nach Relevanz des Bewerbs, Zulässigkeit des vermeintlich brutalen kompetitiven Modus, Krise- oder Nichtkrise der Literaturkritik. Innerhalb dieser scheinbar ewiggleichen Bubble zeigte sich der Bewerb bisher überraschend vielfältig.

TddL Bachmannpreis Impressionen 2019

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Clemens Setz

Den ersten starken Text gab’s tatsächlich schon am Mittwoch. Der Grazer Autor Clemens Setz, der selbst 2006 bei den TddL gelesen hatte, war diesmal auserkoren, die Klagenfurter Rede zur Literatur zu halten. Clemens Setz trat ans Pult und hielt eine verspielte Rede mit dem Titel „Kayfabe und Literatur“. „Kayfabe“, eigentlich ein Begriff aus dem amerikanischen Show-Wrestling, bezeichnet das in der Rolle bleiben der Athleten. Setz beschreibt mehrere Fälle, in denen sich dieses Kayfabe ins Privatleben der Wrestler ausgeweitet hat, die gespielte Rolle zur Identität wurde.

So hätte der Wrestler Ultimate Warrior sich den Namen seines Gimmicks irgendwann in den Pass eintragen lassen. Dieses Verfallen seiner Rolle gebe es auch in Politik, Gesellschaft, Literatur. Setz, der seine Rede Anfang des Jahres geschrieben hatte, prophezeite darin auch das Ende der Türkis-Blauen Koalition, denn auch Strache sei seinem Kayfabe verfallen. In einem Youtube-Clip der FPÖ spielt Strache sich selbst. Zu Weihnachten schenkt er einem Paar „die Stille“, weil die FPÖ alle Fremden aus dem Land geworfen habe.

„Diese Verschmelzung von spielerisch augenzwinkernder Brutalität mit realer Macht ist die bizarrste Ausformung der Kayfabe, gedacht als Absicherung der eigenen Macht und Zementierung einer dem Volk verabreichten Weltanschauung, aber zugleich immer auch das erste Anzeichen einer bevorstehenden Selbstauflösung.“ (Clemens Setz, „Kayfabe und Literatur“)

Das Phänomen Kayfabe ist für Setz also ein Werkzeug, um Geschichte und Gegenwart zu begreifen. Nämlich auch als Dynamiken, in denen die Fiktion dem Realen vorausgeht und letztendlich auf das Reale übergreift, andererseits das Reale das Fiktionale einholt. Ein frischer, auch augenzwinkernder Text mit popkulturellen Referenzen, der am Ende mit einer Warnung aufwartet: Nachdem er das zeitgenössische Autorengehabe, das Sich-Einschließen in einen Berliner Elfenbeinturm, kritisiert und sich damit selbst nicht ausnimmt, fragt Setz sich:

„Und wer weiß, möglicherweise wird es gerade dieser fatalen Neigung anzulasten sein, wenn ich in naher Zukunft, während das bei uns losgeht, was wir später als die Pogrome unserer Zeit erkennen werden, noch immer seelenruhig Hasen- und Ziegenbilder auf Twitter posten werde.“ (Clemens Setz, „Kayfabe und Literatur“)

Tag 1: Science Fiction und Antiheimat

Es begann mit einem eindrucksvollen und auch etwas rätselhaften Text von Katharina Schultens aus Deutschland. Eigentlich gibt man den erstgereihten Texten bei den TddL wenig Chancen auf einen Preis, da die Jury am Ende der vier Lesetage den ersten der vierzehn Texte nicht mehr parat hat. Das könnte bei „Urmünder“ von Schultens anders sein.

Im Jahre 2184 hat sich die Reproduktionsfähigkeit der Menschheit verändert. „Die Mädchen sind keine richtigen.“, es gibt auch keine Männer mehr. Gendermarker wie Vornamen gehören der Vergangenheit an. Wir erfahren von einer Biologin, die die Menschheit mit einem neuartigen Verfahren vor dem Aussterben bewahrt hat. Sogenannte „Chimären“, pflanzlich, tierische Mischwesen, vereinigen sich mit den „Mädchen“ in einem mystisch-biologischen Ritual. Ein humider, moosbewachsener Text, mit Vaginalmetaphern und impliziten Genderdiskurs, der auch die Jury durchaus beeindruckt hat.

TddL Bachmannpreis Impressionen 2019

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Science- oder Strangefiction erzählte die Wienerin und ehemalige Wortlautfinalistin Sarah Wipauer, die in ihrem Text „Raumstation Hirschstetten“ zwei zeitlich weit auseinanderliegende tatsächliche Ereignisse fiktional verbindet. Ihre Figuren sind das Hirschstettner Wissenschaftlerehepaar Clemens und Maria von Pirquet, die beide 1929 Selbstmord begingen. Das zweite tatsächliche Ereignis trug sich im Dezember 2018 auf der ISS zu. An der angedockten russischen Sojus Kapsel entdecken Kosmonauten ein rätselhaftes Loch an der Außenwand. In „Raumstation Hirschstetten“ ist Maria von Pirquet dafür verantwortlich. Gemeinsam mit ihrem Mann, ihrem Schwager, ein paar Kühen, Kindern und einem Alchemisten erscheint sie als Geist auf der ISS. Mit einem Schraubenzieher bohrt sie ein Loch in die Kapsel. „Blaublütige österreichische Untote okkupieren die ISS“, kommentierte Juror Michael Wiederstein.

Die österreichische Theaterregisseurin Julia Jost erzählte in „Unweit vom Schakaltal“ eine Anitheimatgeschichte. Sie konterkariert den Mythos der ländlichen Idylle mit seinen Abgründen: Missbrauch, Kindesmisshandlung, Nationalsozialismus. Ihre Figuren sind Volksschüler*innen, die recht grausam zueinander sind, vor allem zu Franzi, der gezwungen wird, ein Messer aus einem Brunnenschacht zu bergen. Das geht katastrophal schief. Erst ein Feuerwehrmann mit einem Schmiss im Gesicht kann den toten Körper des Kindes mit dem Messer im Bauch bergen. Eingraviert im Messer der Nazispruch: „Unsere Ehre heißt Treue“. Ein handwerklich großartig erzählter Text, in der Tradition der österreichischen Nachkriegsliteratur.

Freitag: Der große Fälscher, der junge Unbekannte und kosmische Klöten.

Der Lesereihenfolge zum Dank wurde der Freitag zumindest im Vorfeld der Tag, der mit großer Spannung erwartet wurde. Das liegt einerseits am jüngsten Teilnehmer der TddL: Der 23-jährige Berliner Daniel Heitzler hat noch keine literarische Veröffentlichung vorzuweisen. In seinem Autorenporträtvideo spielt er Tennis und lobt The Doors. Er studiert allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte und arbeitet als Barkeeper. Irgendwann verirrte sich auch ein Lektor in seine Bar, Heitzler sprach ihn an, schickte ihm einen Text, der es in Folge bis zu Juror Hubert Winkels geschafft hat. Vom Barkeeper zum Bachmannpreis(träger) oder so.

Der Fluch“ heißt Heitzlers Text, in dem sich zwei mexikanische Nachbarn um ein Stück Land streiten. Um diesen Streit zu schlichten, besuchen sie einen Schamanen. In diesem Mexican Standoff, dessen Setting und Figuren wie aus Tarantino’scher Feder wirkt, vergeht kaum eine Zeile, in der man nicht zumindest kurz auflachen muss. Die Jury nahm den Text gespalten auf. Claus Kastberger, war der Meinung, dass sich die Geschichte zu langsam entwickelt. Hildegard Keller verteidigte den Text und lobte die Formulierung „die kosmischen Klöten betasten“ als Metapher für die Zuwendung zur Religion.

Alle Texte, die Lesungen und die Jury-Diskussionen gibt’s hier nachzulesen.

Vom jungen Unbekannten zum dem wohl bekanntesten Teilnehmer der diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur, dem Schweizer Autor und ehemaligen Journalisten Tom Kummer. Jener Tom Kummer, der 2000 einen Medienskandal auslöste, als bekannt wurde, dass viele seiner vermeintlichen Interviews mit Hollywoodstars à la Sharon Stone oder Brad Pitt aus den 90er Jahren gefälscht waren. Kummer erhob seine Methode kurzerhand zur literarischen Gattung dem „Borderline-Journalismus“. In seinen Büchern verfolgte Kummer bisher einen konsequent autobiografischen Ansatz, so hat er beispielsweise in seinem letzten Roman „Nina & Tom“ den Leidensweg und Tod seiner Frau schonungslos direkt, aber dafür beeindruckend „authentisch“ verarbeitet.

Doch selbst in dieser Autobiografie konnten Journalisten der SZ abgeschriebene Stellen entdecken. „Von schlechten Eltern“ hieß der Text, den er für Klagenfurt ausgewählt hat; auch der ist autobiografisch. Wir begleiten Tom, den Taxifahrer, Witwer und Vater zweier Kinder, bei seinen Nachtschichten. Während der Fahrt, wenn seine Fahrgäste auf der Rückbank schlafen, nimmt er die Hände vom Lenker und schaltet das Licht aus. Eine Mutprobe eines Mannes, der vom Verlust eines geliebten Menschen verfolgt wird, ein Geisterfahrer. Die Jury zeigte sich wohlwollend.

Ein Text, der sich weniger mit dem Innenleben seiner Figuren auseinandersetzt als mit den gesellschaftlichen Lebensrealitäten, kam von der Salzburgerin Birgit Birnbacher. Ihr Text „Der Schrank“ handelt von den Bewohnern eines Wohnhauses in einem heruntergekommenen Randbezirk. Die Bewohner, allen voran die 36-jährige Ich-Erzählerin, nehmen an einer sozialwissenschaftlichen Studie zum Thema Arbeit und Gesellschaft teil. Ein sogenannter „Beobachter“ von außen besucht regelmäßig das Mehrparteienhaus, führt Interviews und interessiert sich vor allem für einen Lieferanten, der vor einiger Zeit im Vorgarten des Hauses vor Erschöpfung zusammengebrochen ist. Ein mysteriöser Schrank, der plötzlich im Stiegenhaus auftaucht, gibt den Bewohnern Rätsel auf. Bis schließlich die Ich-Erzählerin seinen wahren Besitzer ausfindig macht. Jurorin Hildegard Keller fand den Text „gelungen in jeder Hinsicht“. Ein Text zu Identität, Arbeit und einer sich im Wandel befindlichen Gesellschaft. Zu Recht ein Text, der als Favorit für einen Preis bei den TddL gilt.

„Am Hafen scheißt mir eine Möwe in die rechte Sandale, es stinkt und klebt“ (Yannic Han Biao, „Kenn ich nicht“)

Ronya Othmann

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Ronya Othmann

Außerdem am Freitag zu hören war der Text „Vierundsiebzig“ von Ronya Othmann, ein Reisebericht oder vielmehr eine Kriegsreportage. Nach dem Völkermord an Jesid*innen durch den sogenannten IS reist die Ich-Erzählerin zu den jesidischen Verwandten ins irakische Shingal. Der Text, der viel mit Wiederholungen arbeitet, protokolliert nicht nur das Leid, sondern versucht auch, das Unsagbare der Gewalt durch Metakommentare im Text zu umstellen.

Den pointiertesten Schlusssatz lieferte Yannic Han Biao Federer mit seiner Trennungsgeschichte „Kenn ich nicht“: „Am Hafen scheißt mir eine Möwe in die rechte Sandale, es stinkt und klebt“.

Überdies bleibt zu sagen, dass in diesem Jahr bisher bemerkenswert wenig Tiere in Texten umgekommen sind. Bis auf ein obligatorisches Huhn sowie ein Rotkehlchen am Donnerstag. Alles in allem also, ein durchaus bemerkenswerter Jahrgang.

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