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Nicolas Mathieu mit Roman

APA/AFP/Eric FEFERBERG

Smells like lost teen spirit: Nicolas Mathieu und sein Roman „Wie später ihre Kinder“

Coming of Age im postindustriellen Frankreich: Für seine Gesellschaftschronik „Wie später ihre Kinder“ ist der französische Autor Nicolas Mathieu mit dem Prix Goncourt 2018 ausgezeichnet worden.

Von Lisa Schneider

Aber er würde nicht so enden wie sein Alter, der den halben Tag besoffen war, bei den Fernsehnachrichten rumschimpfte oder sich mit seiner gleichgültigen Frau stritt. Wo war das Leben, verdammt?

Niemand will so werden wie seine Eltern. Der Titel des neuen Romans von Nicolas Mathieu aber nimmt die Tragik vorweg: „Leurs enfants après eux“, auf Deutsch „Wie später ihre Kinder“: Manchen gelingt die Flucht vor der Vergangenheit nicht.

Herumtreiben zwischen den Trümmern

Lothringen, Anfang der 90er Jahre. Erzählt wird die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher, die im fiktiven Ort Heillange aufwächst. Die Bevölkerung von Heillange hat lange Zeit - seit dem frühen 18. Jahrhundert - von Stahl- und Kohleindustrie gelebt. Mittlerweile sind die Hochöfen lahm gelegt. Sie stehen jetzt da, am Rande der Stadt, wie die Erinnerung an eine einst gute Zeit, einer Zeit des Zusammenhalts und erfüllten Lebensinhalts. Und gleichzeitig wie stählerne Monster, die ihre Schatten auf die Zukunft werfen.

Cover Nicolas Mathieu "Wie später ihre Kinder"

Hanser

Nicolas Mathieus Roman „Wie später ihre Kinder“ wurde 2018 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Er erscheint in einer deutschen Übersetzung von Lena Müller und André Hansen im Hanser Verlag.

Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus. Im Alter hielten sie die Erinnerung an ihre Männer wach, die krepiert waren, auf der Arbeit, in der Kneipe oder an einer Staublunge, die Erinnerung an Söhne, die sich totgefahren hatten, und an alle, die abgehauen waren.

Erzählt wird in vier Zeitabschnitten zwischen 1992 und 1998. Anthony, einer der Protagonisten, ist im ersten Teil des Romans 14 Jahre alt. Man treibt sich herum, klaut Motorräder, feiert, lernt Mädchen kennen. Das ist nicht immer einfach für den gedrungenen Außenseiter Anthony, ein Kind aus einer verschuldeten Arbeiterfamilie, dem noch dazu ein hängendes Augenlid einen etwas seltsamen Ausdruck verleiht. Hacine, der ebenfalls aus einer Arbeiterfamilie stammt, kommt ursprünglich aus Marokko. Er führt ein ähnlich trostloses Leben wie Anthony, auch sein Vater hat seinen Job verloren.

Es sind aber nicht nur Arbeiterkinder, die ihren Weg suchen. Steph ist die Tochter gutsituierter Eltern - das Haus wird ausgebaut, der Pool ist in Planung. Sie ist faul und schlecht in der Schule. Dass sie sich trotzdem nicht mit „Assis“ wie Anthony abgibt, ist klar. Bürgertum und Arbeiterklasse kreuzen in Mathieus Roman ihre Wege, man erkennt einander am Gang, an der Kleidung. An der Art, wie man isst oder wieviel und was man trinkt.

Und so lungern die Alten wie die Jungen herum. Geduckt und misstrauisch schlagen die sie Zeit tot, gehen schwimmen im wenig gepflegten See, trinken zu viel, prügeln sich. Alles ist von klebriger Mühsamkeit überzogen: „(...) die Zeit. Die Langeweile. Die Langsamkeit und die Menschen.“ Mathieus Erzählung erinnert nicht nur an Stellen wie dieser an die berühmte österreichische Sozialstudie über „Die Arbeitslosen vom Marienthal“.

Drüben ist es sicher besser

Die Berliner Mauer ist gefallen, die Welt ist scheinbar frei. Man blinzelt hinüber nach Amerika, nach Seattle, nach L.A.: „Woanders gab es ein Kalifornien, und dort war das Leben bestimmt besser.“ Ein Lied läuft im Radio auf und ab, es ist Nirvanas „Smells Like Teen Spirit“:

Er war noch neu, ein Song aus einer amerikanischen Stadt, genauso rostig wie Heillange, einer Drecksstadt am Ende der Welt, wo versiffte weiße Jungs in Karohemden billiges Bier soffen. Und dieser Song breitete sich wie ein Virus überall da aus, wo es schlaksige Jungprolls gab, verkorkste Kids, Krisenverlierer, Teeniemütter, kleine Gangster auf Mopeds, Kiffer und Sonderschüler.

Der „dreckige“ Grunge der 90er, der der auseinanderklaffenden Gesellschaft - in diesem Fall der Frankreichs - ihren Soundtrack gibt. Einsamkeit und Isolation spürt hier jeder. Mathieus Figuren treiben durchs Leben, verkaufen Drogen, gehen kurzzeitig in die Welt hinaus - zurück nach Marokko, oder zum Militär nach Deutschland - kehren aber immer wieder nach Heillange zurück. Man ist unzufrieden hier, aber man ist eben zuhause unzufrieden.

In einem Interview sagt Nicolas Mathieu: „Damals gab es noch ein Gefühl der Gemeinschaft, das heute verschwunden ist. Dafür ist dieser Ultraliberalismus verantwortlich. Die Leute, die beherrscht werden, halten nicht mehr zusammen. Unterworfen unter seine Gebote leben sie vereinzelt in isolierten Blasen".

Nicolas Mathieu

Bertrand Jamot

Nicolas Mathieu wurde 1978 in Épinal geboren und lebt in Nancy. Sein erster Roman erschien 2014 unter dem Titel „Aux animaux la guerre“ (dt. „Den Tieren der Krieg“).

Nicolas Mathieu ist selbst im Osten Frankreichs, in Epinal, aufgewachsen. Der fiktive Schauplatz des Romans „Heillange“ lässt sich auf den tatsächlichen Ort Hayange, ebenfalls im Osten Frankreichs, zurückführen. Ein Ort, an dem sich das Leben zwischen stillgelegter Industrie und Autobahn auf wenigen Quadratkilometern abspielt.

Ungeschönte Realität

Am Klappentext von „Wie später ihre Kinder“ wird die französische Autorin Virginie Despentes zitiert: „Nicolas Mathieu erzählt von einem Frankreich, über das man nicht spricht. Eine große Gesellschaftschronik in der Tradition von Émile Zola.“ Dabei hat sie sicher an Zolas 1885 veröffentlichten naturalistischen Schlüsselroman „Germinal“ gedacht, in dem die unmenschlichen Umstände in französischen Bergwerken im 19. Jahrhundert geschildert werden.

Zolas Erfolg zu diesem Zeitpunkt war wegen des erwähnten Naturalismus groß. Das rhetorische Mittel Nicolas Mathieus ist weniger der Naturalismus, als der Realismus. Geschönt, poetisch ist hier nichts. Er lässt in seinem Roman die Menschen sprechen - in Momenten, in denen sie viel, und in Momenten, in denen sie gar nichts zu sagen haben. Inklusive aller Dumpfbacken, Schwanzlutscher oder Hurensöhne. An manchen Stellen des Romans lässt sich Mathieu zu sehr vom oft naiven Sprachgebrauch seiner Figuren leiten. Wenn es etwa heißt: „Und sie wollte, dass man sie festhielt. Weil sie sonst im Leben immer alles selbst halten musste“, oder: „Sie nahm seine Hand, sie sagte, fick mich hart, Schatz, einfache Worte, Risse in den Wänden der Einsamkeit.“

Spannend ist Nicolas Mathieus Roman vor allem deshalb, weil er in einer Zeit ansetzt, die die aktuelle politische Situation in Frankreich vorbereitet hat. Der Strukturwandel der Region bedeutete für viele Arbeits- und Perspektivenlosigkeit. Wo früher links gewählt wurde, holen mittlerweile die Rechten die meisten Stimmen.

Anthonys und Hacines Väter haben gemeinsam jahrelang in den ortsansässigen Hochöfen gearbeitet, bis schließlich einer nach dem anderen zugesperrt worden ist. Man grüßt sich noch an der Schank, und schimpft sich hinterrücks Kameltreiber. Immerhin, so die verbreitete Meinung in Heillange, „war das Unglück mit den Migrationsströmen gekommen. (...) man musste nur einsehen, dass die importierten Faulenzer der Hauptgrund für die Missstände der Gegenwart waren.“ Der Hass und die Unzufriedenheit, sie wollen auf etwas projiziert werden.

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