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United States' forward Alex Morgan (C) celebrates after scoring a goal during the France 2019 Women's World Cup semi-final football match between England and USA

Jean-Philippe KSIAZEK / AFP

Blumenaus Fußball-Journal

Empathie und Beharrung: warum die Rekord-WeltmeisterInnen im Finale stehen.

Bei den gestrigen Halbfinal-Matches der Frauen-WM und der Copa America setzten sich die beiden Rekordweltmeister durch, die US-Damen und die brasilianischen Herren. Und das ist kein Zufall.

Von Martin Blumenau

Es waren zwei Clasicos, oder Super Clasicos, da gehen dem Fußball unserer Tage ja die Superlative nicht aus. Zum einen ein altes, das nächtliche Semifinale der Südamerika-Meisterschaft, zwischen Gastgeber Brasilien und den ewigen Kontrahenten Argentinien. Und dann das der sprichwörtlichen special relationship zwischen den US-Frauen und ihren Herausforderinnen aus England.

Zuletzt zur Frauen-WM in Blumenaus Fußball-Journal, das jetzt wieder regelmäßig erscheint: Zwei deutsche Niederlagen im Vergleich, Vorweggenommene Finalspiele - Assoziationen zum Viertelfinale Frankreich - USA sowie Frauen-Fußball wird wie Männer-Fußball und das ist nicht nur gut so. Davor: Zur Untrennbarkeit von Fußball und Politik mit zwei Beispielen aus dem Frauen-Fußball. Und das war die Vorrunden-Bilanz der Frauen-WM, nach einem ersten Blick und einem zweiten auf Deutschland vs Spanien.

Zuletzt zur Copa America: eine erste Bilanz und eine Preview zur Copa America.

Gestern im Journal: Germanys Next Bundesliga-Coach - die heimische Liga als Versuchs-Labor. Dazu auch eine Analyse der Position der Chef-Coaches und die Bilanz der letzten Saison.

Zuletzt auch: alles über die systematische Analyse-Verweigerung nach der U21-EM. Plus: Nachträgliche Relativierung, die Nachlese zur Niederlage der U21 gegen Dänemark; die Analyse des Sieges über Serbien. Davor Texte über den letzten Test vor Beginn der ersten U21-Euro an der der ÖFB teilnehmen darf. Und eine Nachlese zum Finale.

Außerdem im Journal: Vorteil Dänemark: Fußball im digitalen Zeitalter; eine Analyse der Hahnenkämpfe um die globalen Fußball-Rechte anlässlich des Afrika-Cups, eine Analyse der geschlossenen Gesellschaften im Fußball Closed Shop – am Beispiel der beginnenden UEFA-Bewerbe und des Trainingsbeginns der Liga-Meisterschaft.

Außerdem: Nachbetrachtung zum Mazedonien-Ausflug des ÖFB-Teams sowie Preview und Nachlese zum Slowenien-Länderspiel.

Das sind die Vorgängertexte, egal ob als #dailyblumenau auf der neuen oder der alten Website, oder im langjährigen Journal. Regelmäßiges zu diesen Themenfeldern abseits des Fußballs folgt im Herbst.

Die Favoriten-Siege blieben im Übrigen die einzige relevante Gemeinsamkeit – sonst waren diese beiden großen Semifinal-Spiele so unterschiedlich wie möglich: die Frauen suchten die gegenseitige Überraschung, die Herren bestanden auf Beharrung.

Dabei wäre Jill Ellis‘ Team USA ein weiterer Auftritt, der sich ausschließlich an den eigenen Stärken orientiert und auf den Gegner genau gar keine Rücksicht nimmt, nicht nur zuzutrauen gewesen: man muss diesem (deutlich) besten Frauen-Team der Gegenwart diese Position auch zugestehen. Dass sie es nicht getan hatten, zeugt von großer Stärke.

Genauso wie die englischen Strategen, die sich mit ein paar Umstellungen den Gegnerinnen exakt anpassten, nahmen auch die amerikanischen Strateginnen Rücksicht auf die Stärken der Kontrahentinnen. Megan Rapinoe wurde geopfert, statt der Frau, die bisher sogar als Captain auflief, sollte Christen Press mit ihrem Tempo ihrer direkten Gegenspielerin Lucy Bronze nicht nur das defensive Leben schwermachen, sondern auch die Offensiv-Vorstöße der besten Rechtsverteidigerin der Welt einbremsen. Beides gelang, England war einer starken Waffe beraubt. Und Press erzielte sogar das schnelle Führungstor. Wobei: schnell ist das nur für den Rest der Welt. Team USA schiesst bei dieser WM immer ein schnelles Tor (in allen Spielen innerhalb der ersten 12 Minuten).

Englands Phil Neville, der sich nach einem (von Verbandsseite verschuldeten) schlechten Start nunmehr sehr gut in seine Rolle als Frauen-Trainer eingefunden hat, stimmte seine Elf ganz exakt auf die möglichen kleinen Schwächen der Gegnerinnen ab: ein vorsichtiger aufgestelltes Mittelfeld, aber mit schnellen Außen (Daly und Mead, beide toll) und dem Versuch, das Abwehr-Zentrum immer wieder unter Druck zu setzen. Mit Angreiferin White gelang das hervorragend, zwei Tore aus dem Nichts (das zweite wurde wegen knappen Abseits aberkannt) zeugen davon. Überhaupt: hätte Kapitänin Houghton einen absurden, weil mit freiem Auge nicht erkennbaren Elfer nicht verschossen, wäre es noch einmal eng geworden für die Favoritinnen. Nicht dass sie es nicht trotzdem nach Haus geschaukelt hätten, auch ohne den unnötigen Platzverweis für die toughe Millie Bright. Dazu war die Offensive vor Quarterback Ertz zu stark: Horan mit ihrer Wucht, Lavelle mit ihrer Drahtigkeit, Press mit ihrem Tempo, Morgan mit ihrem Killer-Instinkt und vor allem Tobin Heath, die atemberaubende Vorstöße zeigte, woraus ein ebenso atemberaubendes Spiel entstand, auch weil England bis zum Schluss dagegenhielt, samt 1-gegen-1 in der Abwehr.

Beim Frauen-Halbfinale paarte sich also hohe Risikobereitschaft mit empathischer Antizipation, wobei die in allen Bereichen einem Tick schlauere Frauschaft gewann.

Justament statt Empathie

Beim südamerikanischen Herren-Gipfel ging es mehr um Bestemm, mehr darum, wer die angekündigte Stärke und Klasse auch umsetzen würde können. Und da war recht schnell klar, dass es Brasilien sein würde; nicht nur wegen des recht frühen Tores, sondern auch weil ebenso schnell klar wurde, dass auch der x-te Versuch, Superstar Messi irgendwie sinnvoll in einen Mannschaftssport mit Mitspielern einzubinden, die nicht seine sonst gewohnte Kragenweite haben, scheiterte. Hinter Messi agierten sieben mehr oder weniger brav-defensiv denkende Feldspieler, neben ihm zwei nicht optimal berechenbare Mit-Angreifer (Aguero und, neu, Lautaro Martinez). Und das ist wieder einmal zu wenig an Überlegung.

Brazil's goalkeeper Alisson stretches for the ball during the Copa America football tournament semi-final match against Argentina

Nelson ALMEIDA / AFP

Bei Brasilien hat sich die Abwesenheit von Neymar als halber Befreiungs-Schlag ausgewirkt. Zum einen kann sich Philippe Coutinho in einer Zehner-Position hinter den drei Spitzen mit allen Freiheiten austoben, zum andere wurde ein Slot für das neue Supertalent von Gremio Porto Alegre, dem jungen Everton frei. Everton, den man auch Cebolinha nennt, das Zwiebelchen, nach einer klassischen Comic-Figur, die ähnlich wenige Haare auf dem Kopf hat, war gegen Argentinien erstmals im Turnier recht wirkungslos. Dabei galt die Position seines direkten Gegenspielers, Rechtsverteidiger Juan Foyth von Tottenham, im Vorfeld als Schwachstelle. War dann nicht so, das beste Symbolbild dafür war die Körpertäuschung, mit dem der erst 21jährige Foyth einmal Coutinho ins Leere laufen ließ, eine Sequenz, die Szenen-Applaus verdiente.

Am argentinischen Personal liegt es nämlich nicht. Die Abwehr etwa: neben Foyth ist da Pezzella, der Kapitän der Fiorentina, der immer wieder beeindruckende Otamendi von Man City und Ajax grandioser Linksverteidiger Tagliafico. Fürs Mittelfeld wäre mit Paredes, Lo Celso, Acuna oder dem alten Di Maria auch genug Talent da. Und vorne wartet Paolo Dybala auf seine Chance, die er wohl erst dann erhält, wenn Messi abtritt. Bei der Copa spielte statt ihm (und dem erst gar nicht nominierten Higuain) Lautaro Martinez, der neue Inter-Star, demnächst Mitspieler von Tino Lazaro, ein brauchbares Turnier. Anders als Kun Aguero, der andere Star mit dem Namen einer Comic-Figur.

Weniger brauchbar war das Turnier von Lionel Messi. Der sich mit sich selbst uneinig über die Schuldfrage an der Unter-Performance ist, die mit dem 0:2 gestern Nacht ihr verdientes Ende fand. Zuerst war es der Platz, dann sein eigenes Niveau und am Schluss natürlich die Schiedsrichter. Das beanstandete Elfer-Foul, das dem zweiten brasilianischen Tor in Minute 70 vorangegangen war, hatte leider nur die argentinische Mannschaft gesehen. Eine viel bemerkenswertere Tatsache blieb unerwähnt; dass Argentinien ab der 71. Minute nicht mehr mitspielte, sich in Gejammer, Foulspiel und lethargischem Alibi-Kick mit der Niederlage abfanden. Diese Selbstaufgabe entwertet einfach alles.

Wo Argentinien in seiner Spielstruktur zu ideenarm war, blühte seinerseits das vom inspirierenden Kapitän Dani Alves in seinem letzten Frühling angeführte Team Brasilien auf: das neue, von Coach Tite improvisierte 4-2-1-3, ganz ohne die dauernde Sorge um die Positionierung des zerbrechlichen Neymar, vermag über jeden Gegner drüberzurollen.

Was die Seleção unternimmt, wenn sie auf spielerisch/taktisch ebenbürtige Gegner stößt, wird bei dieser Copa nicht mehr ausgetestet werden: Chile (und noch mehr Peru, wenn die es schaffen sollten) wird die Gastgeber mit Kampf und Defensiv-Strategie fordern. Gleiches gilt auch für die europäischen Gegnerinnen von Team USA bei der Frauen-WM. Da war also doch noch eine weitere Gemeinsamkeit...

Den Text gibt’s auch zum Anhören als Podcast.

Blumenaus Fußball-Journal 030719

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