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Strand im Südosten Englands

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Rohes Fleisch für alle Burger

Der letzte Stand der Brexit-Krise aus entspannter Strandperspektive. Die alte Weisheit des jungen Nick Drake bzw. warum Boris Johnson jetzt einmal vorerst ruhig gewinnen soll.

Von Robert Rotifer

Vergangene Woche war ich in Wien, weil es da Dinge zu tun gibt, wie eh alle wissen, die in Wien wohnen.

Ich traf dort Wiener*innen, die mich mit betroffenen „Tut mir leid wegen der Sache mit deinem Haustier“-Blicken ansahen, obwohl sie ja unmöglich wissen konnten, dass unlängst ein Fuchs im Garten eines unserer unbelehrbar freiheitsliebenden Kaninchen gerissen hat.

Das meinten diese Leute daher gar nicht, wenn sie dann noch so Dinge wie „mein Beileid“ sagten. Sie meinten vielmehr das, „was bei euch drüben da so abgeht – ein Wahnsinn.“

Das B-Wort meinten sie.

Sie konnten nicht wissen, dass ich mich schon seit einiger Zeit in einem Seelenzustand der B-Wort-Immunität befinde, zumal das Wetter es erlaubt, ans Meer zu flüchten und vom Strand aus den Möwen von unten dabei zuzusehen, wie sie sich mit einer dem britischen Lemmingsvolk nicht zuzutrauenden Eleganz von den Klippen dieser Insel in die freien Lüfte schwingen.

Möwe über den Klippen

Robert Rotifer

Wie sang Nick Drake so frühreif weise in „Saturday Sun“, dem letzten Song seines vor 50 Jahren erschienenen Debüts „Five Leaves Left?“

Think about stories with reason and rhyme
Circling through your brain
And think about people in their season and time
Returning again and again

Vom Strand heimgekehrt sehe ich hier in den Nachrichten die immer wiederkehrenden Visagen von Leuten wie Boris Johnson und Jeremy Hunt und kann rein objektiv gut nachfühlen, warum Nick damals so besorgt war, nur mehr fünf Blatt für zweieinhalb englisch gerollte Joints übrig zu haben. Der Trick, Nick, wäre gewesen, statt der Selbstbetäubung mehr bei den „stories with reason and rhyme“ zu bleiben und sich durch die „people in their season and time“ nicht ablenken zu lassen.

Das Orgien-Mysterien-Theater Brexit geht in die Carpaccio-Phase

Es ist schon wahr, im Moment geht es um die Kür des nächsten Premiers durch angeblich rund 160.000 (ganz genau weiß man’s nicht) im Schnitt weit über 50-jährige, überrepräsentativ weiß und wohlhabende Tory-Mitglieder, die sich stellvertretend für 65 Millionen hier lebende Menschen zwischen Hunt und Johnson entscheiden können. Ab heute dürfen sie bereits ihre Stimmkarten abschicken, welche dann – weil Großbritannien eh wahnsinnig viel Zeit hat – sehr gemütlich bis 23. Juli ausgezählt werden.

Nachdem die Kandidaten ihre No Deal-Macho-Posen schon lange erschöpft und einer Presse, die das hören will, allerhand Unsinn über mögliche neue Deals und imaginäre Zwischenlösungen erzählt haben (ich will eure Zeit hier nicht mit den demnächst völlig irrelevanten Unterschieden zwischen den Fantastereien von Hunt und Johnson verschwenden), folgte eine Orgie der Versprechen von mehr Polizei und mehr Infrastruktur bei weniger Steuern, vor allem für die Reichen.
Und schließlich die Klimax in Form eines Orgien-Mysterien-Theaters des blutigen Exzess:

Johnson fordert das Recht auf rohes Faschiertes im Burger (die Carpaccio-Phase seiner Rhetorik-Kunst) und Eigentlich-immer-noch-Außenminister Hunt – zwischen dem achtlosen Auslösen diplomatischer Krisen mit China oder dem Iran – die Rückkehr zur Treibjagd auf Füchse. Was in hiesigen konservativen Kreisen ungefähr so eine symbolische speicheltreibende Rolle spielt wie das Braten von Speck auf heißen Gewehrläufen in der amerikanischen Provinz.

Rein persönlich gesprochen glaube ich ja, dass weder unser seliges Kaninchen noch dessen glücklichere Schwester, die den nächtlichen Zweikampf mit dem Fuchs minus Stummenlschwänzchen überlebt hat, viel Eigeninteresse darin erkannt hätten, dass Aristokrat*innen in rotem Rock zu Pferd samt ihren Hundehorden durch die Hintergärten von Canterbury galoppieren.

Und rein menschlich betrachtet, versteh ich auch nicht, warum selbst unter Tory-Gegner*innen die Wohlfahrt der Füchse hierzulande so viel mehr Emotionen auslöst als etwa die von Obdachlosen oder Geflüchteten bzw. die explodierende Kinderarmut im Land.

Aber um all das geht es hier ja wie gesagt gar nicht: Es gibt vielmehr eigentlich bloß zwei Arten von Brexit, nämlich auf der einen Seite den emotionalen, der den Massen verkauft wird und gestern einstweilen (aber sicher nicht endgültig) in der Rede der Ex-Tory-Innenministerin, Roman-Schriftstellerin und heutigen Brexit Party-Abgeordneten Ann Widdecombe vor dem Europa-Parlament gipfelte, in der sie Ironie-befreit den britischen EU-Austritt mit einer Befreiung der Sklav*innen von der kolonialen Herrschaft verglich.

Und auf der anderen Seite die wirkliche Agenda, die sich in Wahrheit um gar nichts davon schert und eher um die Bewahrung Großbritanniens als Zentrum des globalen Empires der Geldwäsche-Ermöglichung dreht. Für Details dazu empfehle ich den „Long read“-Artikel im heutigen Guardian von Oliver Bullough „How Britain can help you get away with stealing millions – a five-step guide“. Die darin beschriebene Dreistigkeit eines offensichtlich systematisch korrupten britischen Staates, der ganz ungeniert um schmutziges Geld aus der ganzen Welt buhlt, ist gleichzeitig unfassbar und doch die einzig rationale, wenngleich zutiefst unmoralische Erklärung für die Bereitschaft, das wirtschaftliche Wohlergehen des eigenen Landes einem neo-nationalistischen Rausch zu opfern.

Die Zeit der geringeren Übel ist vorbei

Das muss sich allerdings erst herumsprechen. Und deswegen stehe ich einem Premierminister Johnson nicht nur vom Sandstrand der britischen Südostküste gefasst bis gelassen gegenüber, ich will jetzt sogar ganz bestimmt, dass er gewinnt. Denn bei Hunt gäbe es ja dann erst recht wieder denselben Vorwurf wie bei May, dass er in Wahrheit ein verkappter Remainer wäre und womöglich müsste er sich dann wie seine Vorgängerin durch größtmögliche Torheit gegenüber seiner realitätsflüchtigen Basis beweisen. Nein, die Zeit der geringeren Übel ist vorbei, jetzt will ich im Zweifelsfall lieber gleich Johnson strampeln sehen. Was auf ihn zukommt, wird auch er nicht vom Tisch ulken können.

Laut jüngster Meinungsumfrage liegen die vor der Mediendominanz ihres Führungswahlkampfs abgeschlagen geschienenen Tories wieder knapp vor der Brexit Party, gefolgt von den Libdems, der ewig herumeiernden Labour Party und den Grünen (wobei letztere drei zusammengenommen etwas mehr ausmachen als erstere zwei). Aber niemand kann sagen, wie sich das im Fall einer nach First-past-the-post-Prinzip in jedem einzelnen Wahlkreis ausgefochtenen Neuwahl auswirken würde, erst recht, wenn im Herbst das große Erwachen aus dem dreijährigen Traum folgt.

Wir wissen nur, was schon der gerade 21-jährige Nick Drake vor einem halben Jahrhundert unter der täuschend wärmenden Samstagssonne in Gewissheit suggerierendem Present Perfect zu prophezeien wusste:

But Saturday sun has turned to Sunday’s rain.

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