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BEatles 1966

APA/AFP/JIJI PRESS

ROBERT ROTIFER

Yesterday came suddenly

Die Antwort auf die vom Film „Yesterday“ gestellte Frage, wie eine fiktive Welt ohne Beatles aussehen würde, liegt überraschenderweise mitten in der realen - nicht nur - britischen Gegenwart.

Von Robert Rotifer

Wollen wir zunächst einmal ein Missverständnis aufklären? Mein britischer Kollege Dorian Lynskey hat für die Online-Edition von GQ einen schönen und klugen Artikel darüber geschrieben, wie unambitioniert der Film „Yesterday“ in seinem Gedankenexperiment einer Welt ohne Beatles sei. Doch all seine überzeugenden Thesen dazu, wie radikal anders die große Erzählung des Pop ohne den Schmetterlingseffekt der Beatles verlaufen wäre, beruhen auf einer falschen Prämisse.

Der Film „Yesterday“ spielt nämlich entscheidenderweise nicht in einer Welt, in der es die Beatles nie gab, sondern in einer, die die Existenz der Beatles vergessen hat. Und das sind zwei ganz verschiedene Paar Beatle-Boots.

Der von Himesh Patel verkörperte glücklose britische Singer-Songwriter Jack Malik ist nach einer Episode weltweiter Amnesie zwar (scheinbar) der einzige, der sich an den Songkatalog der Beatles erinnert, aber es wird klar, dass diese nicht nur in seiner Vorstellung, sondern tatsächlich existiert haben müssen.

Stills aus dem Film "Yesterday"

Universal Pictures

Himesh Patel singt „Help!“

Freilich gibt es in diesem Plot, der so viel Löcher hat, wie es braucht, die Albert Hall zu füllen, ein paar gänzlich unlogische Elemente, wo sich die Beatles-Losigkeit der Welt in rückwirkenden physischen An- und Abwesenheiten manifestiert.

Aber grundsätzlich ist es natürlich völlig plausibel, auf den historischen Verdiensten der Beatles aufzubauen, ohne deren Herkunft zu kennen. Eine solche Welt bewohnt die Mehrheit der Teenager*innen und Millennials, denen die Beatles am Arsch vorbei gehen, schon längst. Und das geht, obwohl sie dabei einiges versäumen, auch völlig in Ordnung so.

Glauben an das Gestern

Die Idee einer mit Schlagzeug, Gitarren und Bass bewaffneten Buben-Gang, die sich ihre Songs selber schreibt, hat sich längst zu Tode gespielt und wurde von anderen Modellen abgelöst, ja selbst die Klangexperimente der Abbey Road sind in Form von Plug-ins allgemein erhältlich.

Die Evolution des Pop benötigt kein historisches Bewusstsein von dessen Ursprüngen, um weiter voranzugehen. Wie viele, die bei seinem Erscheinen „Lady Madonna“ liebten, kannten auch Humphrey Lytteltons “Bad Penny Blues“? Und spielte das irgendeine Rolle?

Je länger ich nach Verlassen des Kinos darüber nachdachte, desto unwichtiger wurden solche Fragen. Umso offensichtlicher dagegen, dass „Yesterday“ - völlig unabhängig von Regisseur Danny Boyle und Skriptautor Richard Curtis’ Intentionen – kein bloßes Gedankenexperiment ist, sondern vielmehr unsere Welt in überhöhter Form erstaunlich genau so beschreibt, wie sie heute ist. Um das zu erkennen, braucht man nur über die wörtliche Auslegung des Stoffs hinauszugehen und ihn allegorisch zu begreifen.

Stills aus dem Film "Yesterday"

Universal Pictures

Himesh Patel und Ed Sheeran in „Yesterday“

Ja, ihr habt es sicher kommen gesehen, dass ich auch das wieder mit dem Brexit in Verbindung setzen würde, und euer ermüdetes Aufstöhnen sei euch vergeben, aber es ist wirklich kein Zufall, dass dieser Film gerade im derzeitigen politisch-sozialen Klima solche Emotionen erregt.

Ich gebe zu, auch ich musste weinen, als ich Jack seinen Freund*innen den Song „Yesterday“ vorspielen hörte. Bei seinem Erscheinen im Jahr 1965 markierte dieses Lied nicht nur den Punkt, an dem die Beatles dank des Beat-Musik-befreiten Streichquartettarrangements in die Herzen der Elterngeneration vordrangen. Das war vielmehr auch der Moment, da eine bis dahin radikal vorwärtsblickende Popkultur erstmals ihre nostalgische Ader entdeckte.

LP The Beatles Yesterday and Today

Capitol Records

Das Skandalcover der US-Compilation „The Beatles Yesterday and Today“

„I believe in yesterday“, sang Paul McCartney und verließ dabei, ob unbewusst oder nicht, den Rahmen seiner Liebesgeschichte. Genau zur Mitte der Sechzigerjahre kippte nämlich die Imagination der den Zeitgeist ebenso bestimmenden wie absorbierenden Beatles in Richtung einer Sehnsucht nach der Vergangenheit. Siehe auch Lennons „In My Life“ und „Strawberry Fields“ oder McCartneys „Penny Lane“ und „Your Mother Should Know“ (Erinnerungen konnten die beiden bezeichnenderweise jeweils nur im Alleingang beschreiben). Noch vor dem Abdrehen in die innere Emigration der Psychedelik hatte der Optimismus der Pop-Explosion Mitte der Sechziger - zumindest in seinem Epizentrum - bereits die Comedown-Phase erreicht.

Danny Boyle wiederum inszenierte 2012 die das Beste am modernen Britannien zelebrierende Eröffnung der olympischen Spiele in London, eine gleichermaßen optimistische wie sentimentale Darstellung eines progressiven Positivismus, vom staatlichen Gesundheitssystem bis zur post-imperialen Multikulturalität.

Rückblickend wird diese Zeremonie heute gern als das letzte große Aufbäumen des kommunalen Nachkriegsgeists, sowie des weltoffenen Post-Sixties-Selbstverständnisses der Nation interpretiert.

Diese vor sieben Jahren noch so enthusiastisch nach außen gekehrte Selbstsicht Großbritanniens als entspannt inklusives, in sich kosmopolitisches Land hatte die Existenz der Beatles nicht nur als Voraussetzung. Sie war zum großen Teil ihr direktes Verdienst.

Das trojanische Pferd sagt „Yeah!“

Jene abgeschiedene Insel am westlichen Ende Europas, wo die fabulösen Vier herkamen, galt vor ihrem Auftauchen als ein Hort des verstockten Traditionalismus. Die britische Gesellschaft hatte zwar den radikalen Energien des Faschismus widerstanden, schien aber auch beharrlicher als andere Teile der Welt an einem verkrusteten Klassensystem festzuhalten.

Mit einem vierfachen „Yeah!“ transformierten die Beatles das schwindende Empire der steifen Oberlippe zum swingenden Mutterland des Pop – auch in den Augen jener, die ihnen die Stones vorzogen, schließlich hätte es ohne These keiner Gegenthese bedurft.

Man kann nun darüber spekulieren, ob sich ohne John, Paul, George & Ringo irgendjemand anders gefunden hätte, der/die diese historische Chance genutzt hätte: Dieses günstige Zusammenfallen eines kurzlebigen Booms der britischen Konsumgesellschaft mit einem demographischen Überschuss an jungen Menschen bei gleichzeitiger Abschaffung der britischen Wehrpflicht (die Einberufung zum National Service hätte die Beatles zerrissen). Und dazu noch das vom Abflauen der amerikanischen Rock’n’Roll-Welle hinterlassene Vakuum in den Pop-Charts, sowie ein unbändiges Bedürfnis nach Erleichterung zweieinhalb Monate nach der Ermordung John F. Kennedys, als die Beatles in New York landeten und mit ihrer unschuldig antiautoritären Attitüde erst die USA, dann per Verlängerung den globalen Pop-Markt eroberten.

*Aus „Annus Mirabilis“ von Philip Larkin, 1970

Sexual intercourse began
In nineteen sixty-three
(which was rather late for me) -
Between the end of the „Chatterley“ ban
And the Beatles’ first LP.

Die größte Leistung dieser wichtigsten aller Bands liegt allerdings erst darin, was sie aus diesem glücklichen Moment machten: In ihrer Funktion als – in John Lennons Worten – „trojanisches Pferd“, das den Mainstream mit Träumen von sexueller Befreiung*, drogenbefeuerter Bewusstseinserweiterung und dem Ausbruch aus eurozentrischen Kulturbegriffen (Indien!) infiltrierte. Nicht zuletzt aber in ihrer zu Zeiten des Vietnam- bzw. Kalten Kriegs gar nicht so abstrakten Botschaft des Friedens und der Liebe.

Die eigentliche Überraschung der tatsächlich herzerwärmenden und witzigen, letztlich aber brav inszenierten Romcom „Yesterday“ ist die ungeheure Strahlkraft dieses vertrauten Materials außerhalb seines geschichtlichen Zusammenhangs. Ob dieselben, abgesehen von einer Indie-Rock-Version von „Help“ im Vintage-Format reinterpretierten Lieder heute bzw. ohne ihr charismatisches Vehikel der archetypischen Vierfaltigkeit John-Paul-George-Ringo wirklich so unwiderstehliche Hits wären, kann natürlich niemand sagen. Aber wenn Jack Malik 52 Jahre nach dem vergessenen Original vor einem von der Beatles-Geschichte unberührten Publikum Zeilen wie „Nothing you can do that can’t be done / Nothing you can sing that can’t be sung“ aus „All You Need Is Love“ singt, dann wird eindeutig klar, an welches Gestern er hier glaubt.

Ungebremst offenbart sich hier der Widerspruch zum heutigen Brexitannien der in Fremdenangst erstarrten insularen Paranoia und des Konsens zur Beendigung der Bewegungsfreiheit: „There’s nowhere you can be that isn’t where you’re meant to be / It’s easy“

Peace & Love & Brexit

Natürlich wird die alles umnachtende Krise um den EU-Austritt in „Yesterday“ mit keinem Wort erwähnt. Und wenn Ringo Starr erst vor drei Tagen seinen 79er mit einer Peace-and-Love-Feier beging und gleichzeitig dem Brexit das Wort redet, beweist das, wo die Grenzen der einst von seinen Bandkollegen formulierten Botschaft liegen.

Doch der von einer Nebenfigur ausgesprochene Gedanke, dass eine Welt ohne Beatles „unendlich viel schlechter“ wäre, trifft genau den Punkt. Denn das Großbritannien der Brexit-Ära lässt sich genau so umschreiben:

Es ist dasselbe Land mit denselben Menschen, denselben putzigen wie hässlichen Häusern, denselben grünen Hügeln, weißen Klippen und demselben immer noch irgendwie bestehenden Anspruch als globaler Pop-Schauplatz, aber in seinem Seelenleben zurücktorpediert in eine Zeit vor den Beatles. Und das war dann wohl auch der tiefliegende Grund dafür, warum ich gar so viel weinen musste bei dem Schinken.

Die einstige Pro-Brexit-Parole „We want our country back“ hat in den letzten drei Jahren seit dem Referendum ihre Bedeutung ins Gegenteil verkehrt. Dieser Film spricht zu all denen, die das von Danny Boyle damals 2012 im Londoner Olympiastadion inszenierte Land zurück haben wollen. Das Land, das sie zu bewohnen glaubten, ehe eine regressive National-Neurose sie brutal aus ihrem wohlmeinenenden Selbstbetrug riss.

Das ist wiederum ein Gefühl, das sich - so wie immer bei gelungenen Pop-Statements - weit über die Grenzen des britischen Handlungsschauplatzes hinaus nachempfinden lässt, von Trumps Amerika bis ins von Salvini und Orban vor sich hergetriebene Kontinental-Europa.

Überall auf der Welt schaudern die Menschen vor jener aller tröstlicher Post-Beatles-Gewissheiten beraubten Parallelwelt, in die sie da hineingestolpert sind.

Sie alle wollen ihr „Yesterday“ zurück.

Und man kann es ihnen/uns nur schwer verdenken.

„Yesterday“ bringt die Beatles-Songs ins Kino

Was wäre, wenn niemand die Beatles kennen würde? Was würde das für die Popkultur bedeuten? Vor dieser Situation steht ein erfolgloser Musiker, der als einziger die Klassiker der „Fab Four“ kennt – in Danny Boyles neuem Film „Yesterday“.

PS: Ich würde dringend empfehlen, sich „Yesterday“ auf Englisch anzuschauen. Hab im ORF Kulturmontag, wo ich zum selben Thema als Talking Head auftauchen durfte, in deutscher Synchronfassung jene Szene gesehen, in der Jack Maliks Roadie einem verblüfften Ed Sheeran erklärt, er solle das Rappen „meinen Brüdern“ überlassen. „Best leave it to the brothers“, heißt es im Original. Das bedeutet schon was ziemlich anderes.

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