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Pohoda 2019

Tomáš Tkáčik

Respekt ist sexy: Pohoda Festival 2019

Charlotte Gainsbourg, Viagra Boys, Jeff Mills, Mac DeMarco, Cari Cari und viele mehr beim wieder ganz bezaubernden Pohoda Festival im slowakischen Trenčín

Von Katharina Seidler

„Respekt ist sexy“, steht auf gestickten Bannern, die die Bauzäune und Absperrungen des Pohoda Festivals schmücken. Die Besucher*innen dieses Festivals, das an diesem Wochenende in der slowakischen Stadt Trenčín über seine 13 Bühnen ging, haben sich dieses Motto zu Herzen genommen. Es wurden auf diesen Seiten, etwa hier, hier, hier und hier, schon zahlreiche Empfehlungen für dieses Wochenendjuwel ausgesprochen, und auch die 2019er Edition des Pohoda stellte keine Ausnahme dar.

Fast alles, was an anderen Festivals dieser Größenordnung – es kommen immerhin 30.000 Leute pro Tag auf das Flugfeld von Trenčín – nervt, wurde hier in jahrelanger Erfahrung eliminiert. Auf dem Boden liegt kein Müll, er wird in fünf verschiedene Kategorien getrennt, wobei freundliche Festivalmitarbeiter*innen helfen. Die Papierteller der ganz schön gut scharfen vegetarischen Tacos? Bitte in die Biotonne, sie sind biologisch abbaubar. Man steigt in keine stinkenden Lacken im unebenen Asphaltboden? Das liegt an den Hundertscharen an mobilen WCs. Niemand rempelt herum, bewertet vorbeigehende Frauen nach einem Punktesystem, pinkelt freihändig auf den Weg oder schreit nach den Ärzten während eines ruhigen anderen Konzerts? Es gibt auf dem ganzen Gelände keinen harten Alkohol. Die Bedeutung dieses letzten Punktes ist nicht hoch genug zu bewerten. Vielleicht ein Schlüssel zum Erfolg fürs ganze Leben?

Pohoda Festival 2019

Martina Mlčúchová

Pivo, ja, bitte! Liquors, nein, danke! Danke, Pohoda.

Zwischen den Konzerten von etwa Lianne La Havas, Mac de Marco oder Michael Kiwanuka laufen unbehelligt Kinder und Hunde herum. Kinder und Hunde! In Sachen musikalischer Frühbildung tun sich ihnen beim Pohoda Festival große Chancen auf.

Zum Beispiel spielt hier Charlotte Gainsbourg in der Samstagnacht einen ihrer seltenen Gigs. In einem Wald aus weißen LED-Rechtecken, die sich von der Decke senken und wie große Spiegel Licht in alle Richtungen werfen, sitzt Charlotte Gainsbourg am Klavier, in gut sitzenden Jeans, passender Jacke und einem tollen weißen T-Shirt. Sie ist schlichte Eleganz und Stil in Perfektion. Ihr Gesicht kann man auf den Leinwänden in Großaufnahme betrachten, während sie mit ihrer zarten, aber nie lieblichen Stimme ihre persönlichen Songs, seit Kurzem erstmals auch auf Französisch, singt und haucht.

Charlotte Gainsbourg beim Pohoda Festival 2019

Martina Mlčúchová

An der erbarmugslosen, aber umso poetischeren Selbstentblößung von Charlotte Gainsbourg lässt sie ab der ersten Konzertsekunde keinen Zweifel, wenn sie die Setlist mit „Lying with you“ eröffnet, einem Song über ihren verstorbenen Vater Serge, den sie nach seinem Herzinfarkt als erste im Bett fand. Sie legte sich einen Moment lang an seine Seite. Auch der Tod ihrer Schwester Kate Barry 2013 durch einen Sturz aus dem Fenster fand, nicht nur im direkt betitelten Song „Kate“, Eingang in Gainsbourgs jüngstes Album „Rest“, das trotz des beinahe konzeptionellen Überbaus kein tonnenschweres Traueralbum ist, sondern im Vermissen und der Melancholie auch lichte Momente findet.

Ihre Band, ebenfalls in Jeans und T-Shirt, unterfüttert ihren luftigen Synth Pop mit komplexen Rhythmen und kühlem Funk, im Hintergrund werkt ein Bandkollege an einem zweieinhalb Meter hohen Modularsynthesizer. Mit überschlagenen Beinen singt Gainsbourg zum Abschluss ihres Pohoda-Konzerts „Lemon Incest“, jenen sogenannten Skandalsong, den sie im Alter von 14 mit ihrem Vater aufnahm. Sie ist dabei weniger kleines Mädchen als souveräne Künstlerin. Ein großer Festivalabschluss.

Charlotte Gainsbourg beim Pohoda Festival 2019

Martina Mlčúchová

Den schmerzlichsten Moment erlebte das Pohoda Festival 2019 am Freitagabend, als Main Act Lykke Li in praktisch allerletzter Minute, kaum eineinhalb Stunden vor ihrer geplanten Show, endgültig keinen Flug von Woherauchimmer mehr bekam und eine Absage schickte. Verzweiflung unter dem Pohoda-Team im Pressebereich, gleich müssen sie via App die Info ausschicken. Lykke Lis Slot covert das britische Dance-Post-Punk-Duo Sink Ya Teeth, die nach ihrem Nachmittagsgig auf einer kleineren Bühne zu unverhofften Spontanheadliner-Ehren kommen. In ihrer Sample- und Inspirationsbiographie führen Sink Ya Teeth zwar ausschließlich Geschmackvolles von Donna Summer bis New Order und LCD Soundsystem, können die Fußstapfen auf der im wahrsten Sinne des Wortes riesigen Urpiner Stage aber kaum ausfüllen.

(Leider gibt es keine Fotos von dem Viagra-Boys-Gig, daher hier ein tolles Video.)

Man findet also gut Zeit, zu den zeitgleich spielenden punky Post-Punk-Schweden Viagra Boys zu eilen. Die verbinden auf raffinierte Weise bierselige Rüpelhaftigkeit – Knasttattoos, Popschdekolletee, „lookin‘ good for the ladies“ - mit der Dekonstruktion ebendieser Klischees. „Endless Anxiety“ steht auf ihren Merch Shirts, vom Bandnamen ganz zu schweigen, und in ihrem bisher größten Song, „Sports“, einem kompletten Superhit, führen sich in einer ewigen Aufzählung die Standard-Feierabend-Hobbys männlicher Männer ad absurdum: “Baseball, Basketball, Wiener dog, short shorts”. Viagra-Boys-Sänger Sebastian Murphy croont wie ein Wiedergänger von Iggy Pop und dazu kreischt ein noisiges Saxophon. What’s not to like!

Pohoda Festival 2019

Martina Mlčúchová

Skepta

Die Großartigkeit von Mercury-Preisträger Skepta im Allgemeinen und seiner aktuellen Liveshow im Speziellen hat Kollegin Dalia Ahmed hier anhand seines Splash-Auftritts erörtert; er hat auch den Eröffnungsabend des Pohoda glamourös bereichert. Davor spielten die größten Popstars der Welt, The 1975, hier ebenso unlängst von Lisa Schneider ausgiebig verhandelt. Zu dieser Band ist zu sagen, dass sie zu einhundert Prozent von dem umwerfenden Charme ihres Sängers Matt Healy lebt und zu ungleich weniger Prozent von der Qualität ihrer Schmusepop-Songs, die einem fünf Minuten nach dem Hören schon wieder aus dem Gedächtnis rutschen.

Pohoda Festival 2019

Martina Mlčúchová

Matt Healy!

Erfreulicher auf der Urpiner Main Stage: Mac de Marco am Freitagnachmittag, genau in dem Moment, als die untergehende Sonne den Nervregen vertreibt und einen geradezu kitschig perfekten Regenbogen an den Himmel malt. „Look, a rainbow“, freut sich auch Mac DeMarco, macht einen Handstand, blödelt auch sonst lieb herum und schießt bei einem vorbeifliegenden Hubschrauber einen sehr guten Arnold-Schwarzenegger-Witz aus der Hüfte, der an dieser Stelle zu kompliziert zu erklären ist. In Sachen Smoothness erreicht er jedenfalls mühelos die Höhen von Großmeistern wie etwa Helado Negro, bleibt dabei immer klug und augenzwinkernd-locker. „Viceroy, early in the morning,“ heißt es in seiner Hymne an seine Lieblingszigarettenmarke aus dem Jahr 2012, „Honey, I’ll smoke you ‚til I’m dying...“. Im Publikum blitzen die Feuerzeuge auf.

Pohoda 2019

Nad'a Koščíková

Mac DeMarco

Wer es noch nicht gewusst haben sollte, der kann beim Pohoda Festival auch den Österreichern Cari Cari dabei zusehen, wie sie langsam, aber sicher, zu Weltstars werden. Ihr Auftritt im riesigen Zelt der Europa Stage ist schon während ihrer ersten Nummer so gut gefüllt, dass Hunderte Menschen von draußen keinen Einlass mehr finden. Um den Didgeridoo-Bass-lastigen Wüstenrock von Cari Cari herrschte schon im Vorfeld des Festivals aufgeregtes Murmeln, und das Publikum zeigt sich sowohl in Sachen Jubel als auch bei einer spontan durchgeführten Umfrage begeistert.

Es ist, als rollten draußen unter dem aufziehenden Gewitter Tumbleweed-Bälle über das Flugfeld, während drinnen der Moshpit tobt. Als Einleitung zum Über-Hit „Mapache“ stimmt Stephanie Widmer, wie üblich tadellos gekleidet, den Nancy-Sinatra-Klassiker „Bang Bang (My baby shot me down)“ an, passender geht es kaum. Nach „uno-dos-tres: Mapache!!“ explodiert dann das Zelt.

Gemein, es gibt keine offiziellen Fotos von Cari Cari beim Pohoda Festival (kein Platz im Zelt wahrscheinlich). Hier ein Livevideo von wann ganz anders:

Bevor hier alles zu gefühlig wird, sei in Sachen Pohoda Festival wenigstens auch dies gesagt: Österreicher*innen, die ihr gerne bei Konzerten zuhören möchtet, daran aber daheim regelmäßig gehindert werdet, verzagt nicht, denn auch in der Slowakei quatschen die Leute laut und permanent. Es sei denn natürlich, es ist rund um sie so fucking laut wie bei den kalifornischen Noise-Rave-Rap-Berserkern Death Grips, die als Silhouetten vor knallrotem Hintergrund auf der Sporka Stage zum Abriss blasen. Ebendort zeigt Detroit-Techno-Großwesir Jeff Mills später, warum er noch am jüngsten Tag als der Meister der Atmosphäre bestehen wird, der zwischen den allerhärtesten 1, 2, 3 und 4 noch ganze Galaxien aus Klang unterbringt.

Pohoda 2019

Nad'a Koščíková

BaBa ZuLa

Wer zu einer benachbarten Bühne, ebenfalls ein großes blaues Zelt, das irgendwie anders heißt, eilt, erwischt gleichzeitig zu Jeff Mills die Istanbuler Band Baba Zula, die auf herrlich durchgeknallte Weise Krautrock und Psychedelik à la The Doors mit anatolischer Folklore, vernebelten Sufi-Sounds und einer ordentlichen Portion Punk verbindet (Empfehlung an dieser Stelle für das 2016er Album „Do Not Obey“ von Baba Zula). Für solche Bookings eines ehrlich globalen Popverständnisses kann man Events wie dem Pohoda, in dieser Hinsicht geistesverwandt mit größeren Festivalgeschwistern wie Roskilde oder Sziget, nur dankbar sein.

Die Verbindungslinien von Istanbul nach Detroit, von Kinshasa (bitte googeln: die Band Kokoko!) über Paris nach Wien via Trenčín waren im Laufe dieser drei Pohoda-Festivaltage wieder leuchtend präsent. We are one und Respekt ist sexy.

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