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Rachel Kushner sitzt auf einer Motorhaube

Chloe Aftel

Rachel Kushners neuer Roman spielt in einem US-Frauengefängnis

Wäre die gesamte US-Gefängnispopulation eine Stadt, wäre es die fünftgrößte Stadt der USA. Die Autorin Rachel Kushner lebt in Kalifornien in der Nähe der Haftanstalten, die einen der größten Gefängniskomplexe der Welt ausmachen. Kushner hat sich intensiv mit dem Gefängnissystem der USA befasst. Das Ergebnis ist der Roman „Ich bin ein Schicksal.“

Von Lena Raffetseder

Romy Hall bekommt zweimal lebenslänglich plus sechs Jahre, weil sie ihren Stalker erschlagen hat. Der Roman „Ich bin ein Schicksal“ steigt ein, als Romy nach zwei Jahren U-Haft in die fiktive Stanville Women’s Correctional Facility in Kalifornien verlegt wird. Wir erfahren, wie der Alltag einer Frau aussieht, die keine Zukunft hat.

Man existiert weiter

Autorin Rachel Kushner hat sich intensiv mit dem Gefängnissystem in Kalifornien auseinandergesetzt. Sie hat undercover Haftanstalten gesehen, Gerichtsverhandlungen besucht und sich bei einer NGO für die Abschaffung von Gefängnissen und Freiheitsentzug eingesetzt. In „Ich bin ein Schicksal“ legt Kushner den Fokus auf diese Menschen, die aus der Gesellschaft ausscheiden und unsichtbar werden. Vor allem dann, wenn sie eine lebenslange Strafe absitzen.

Buchcover: Frau steht vor einem Spiegel

Rowohlt Verlag

„Ich bin ein Schicksal“ von Rachel Kushner ist im Juni im Rowohlt Verlag erschienen. Übersetzt hat den Roman Bettina Abarbanell.

„Ich habe nicht vor, lange zu leben. Auch nicht unbedingt kurz. Ich habe gar nichts vor. Die Sache ist bloß die, man existiert ja weiter, ob man es nun vorhat oder nicht, bis man irgendwann nicht mehr existiert, und dann sind alle Vorhaben bedeutungslos.“

Durch Rückblicke erfahren wir von Romys Jugend, geprägt von Drogen und Vernachlässigung, ihrer Arbeit als Stripperin im „Mars Room“ (so heißt der Roman im Original) und ihrem Sohn, der seit ihrer Inhaftierung bei seiner Großmutter lebt. Wir springen aber nicht nur zwischen Zeiten, sondern auch zwischen Perspektiven hin und her.

Eine Sichtweise ist die des korrupten Ex-Cops und Auftragskillers Doc, der wegen Mordes in einem anderen Gefängnis einsitzt. Durch ihn stellt Kushner einen Kontrast zwischen Männer- und Frauengefängnissen her: Frauen zum Beispiel werden von Wärter*innen nicht gefürchtet, sondern infantilisiert, Frauengefängnisse allgemein schlechter finanziert.

Während man bei den verschiedenen Kapiteln aus der Sicht des Ex-Cops, einer Insassin oder eines Gefängnislehrers anfangs denkt, unabhängige Schilderungen aus anderen Gefängnissen zu lesen, merkt man im Laufe des Romans, dass alle Geschichten miteinander verwoben sind.

„Weinen ist auf ein Minimum zu beschränken“

Regeln, Normen und ungeschriebene Gesetze prägen den Gefängnisalltag der 29-jährigen Romy. Beim Englischunterricht, der Arbeit in der Werkstatt, dem Tausch von beliebten, aber verbotenen Gegenständen: Überall sind die Beziehungen zwischen den Frauen essenziell.

Rachel Kushner sitzt auf Treppenstufen

Gabby Laurent

Rachel Kushner

„Im Knast legen bestimmte Frauen die Regeln für alle fest. Wenn man ihre Regeln befolgt, stellen sie weitere auf. Man muss sich frühzeitig wehren, sonst steht man am Ende mit nichts da.“

In dieser totalen Institution ohne Privatsphäre bleibt den Insassinnen nichts außer ihrem Charakter. Mit allen Stärken und Schwächen: Sie verführen, bedrohen, manipulieren. Entsprechende Fähigkeiten prägen das Miteinander im Gefängnis.

Einen Wendepunkt erreicht der Roman, als Romy erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist und ihr Sohn im amerikanischen Fürsorgesystem zu verschwinden droht. Denn dann muss Romy handeln.

Autorin Rachel Kushner schafft es, dass man die ProtagonistInnen weder bemitleidet noch verurteilt. Der Roman ist eine Beschreibung des kalifornischen Gefängnissystems, mit Hintergrundinformationen und Anekdoten - zu Thanksgiving gibt es Emu-Fleisch und generell pro Tag nicht mehr als 1.400 Kalorien zu essen. „Ich bin ein Schicksal“ ist ein spannender Einblick in eine Welt, aus der man nur schwer wieder entrinnen kann.

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