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„Mein Jahr als Jäger und Sammler": Der Engländer John Lewis-Stempel wagt einen radikalen Selbstversuch

Sein eigenes Gemüse anzubauen und seine eigenen Tiere zu halten hat für den Autor und Landwirt John Lewis-Stemple seinen Reiz verloren. In einer Sinnkrise beschließt er, ein Jahr lang ausschließlich von dem zu leben, was die Natur von sich aus hergibt. Dabei muss er nicht nur mit den Wetter, sondern auch mit Gesetzen und Gewissensfragen kämpfen.

Von Simon Welebil

Wenn man ein Jahr lang ausschließlich Jäger und Sammler sein will, dann ist Oktober wohl der beste Monat, um zu beginnen, meint John Lewis-Stemple. Denn dann gibt es auf seinen 16 Hektar Land in den englischen Black Mountains, die er kürzlich erworben hat, jede Menge zu ergattern. In Weiden, Wäldern, Hecken und einem kleinen Bach sammelt er Löwenzahn, Haselnüsse, jede Menge Beeren, Pilze, Sauerampfer oder Gänsedisteln und erlegt Waldschnepfen, Kaninchen und Stockenten mit Luftgewehr oder Schrotflinte.

Der Jäger und Sammler des 21. Jahrhunderts will seine Nahrung aber nicht einfach hinunterschlingen. Er hat gewisse Ansprüche, will auch genießen, nicht nur überleben. Was John Lewis-Stemple auf den Esstisch zaubert, könnte auch auf Speisekarten von Restaurants stehen: „Gebratenes Rebhuhn mit Holunderweinsoße“, „Gefüllte Schlangenknöterichblätter“ oder „Haselnuss-Kotelett aus Nüssen und Erdkastanien-Schnitzel“, zu denen er auch immer die Rezepte mitliefert. Bis Lewis-Stemple allerdings zu solchen Gerichten in der Lage ist, ist einiges an Aufwand nötig, muss er doch alle Grundzutaten des Kochens wie Öl („die Menge bernsteinfarbenen Öls, die man aus einem Pfund [Hasel]Nüsse gewinnt, lässt sich in Bruchteilen eines Teelöffels messen“, bzw. Gänseschmalz) oder Mehl (aus Kastanien, Eicheln, Gänsefuß) erst improvisieren.

Die Tage sind viel zu kurz

Doch schon in den Zeiten des Überflusses kommen John Lewis-Stempel Zweifel, ob sein Projekt funktionieren wird. Er hat die Arbeit fürs Jagen und Sammeln vollkommen unterschätzt, die fürs Zubereiten komplett vergessen was zunehmend zur Belastung wird. Bereits im November hindert ihn die Angst, dass er zu wenig Vorräte für den Winter anlegen kann, mehr als fünf Stunden pro Nacht zu schlafen. "Der schreckliche, sich schließende Schraubstock der Dunkelheit bedeutet, dass ich immer weniger Zeit zum Jagen und Sammeln habe. Und jedes Ticken der Uhr heißt, dass der Winter mit seinem Mangel an Pflanzen noch näher rückt.“

Buchcover fon John Lewis-Stempels "Mein Jahr als Jäger und Sammler"

Dumont

„Mein Jahr als Jäger und Sammler. Was es wirklich heißt, von der Natur zu leben.“ ist im englischen Original schon 2010 erschienen. Nun wurde es von Sofia Blind ins Deutsche übersetzt und ist bei Dumont erschienen.

Kürzer werdende Tage sind allerdings nur eine der Beschränkungen für seine Nahrungssuche, Gesetze sind die andere. Ein urzeitlicher Jäger und Sammler musste nicht wegen Jagdsaisonen auf Beute verzichten oder sich vom Naturschutz vorschreiben lassen, welche Pflanzen er essen darf, und so muss sich John Lewis-Stemple oft kreative Lösungen einfallen lassen. Anderes muss er hinnehmen, etwa dass seine Frau ihm verbietet, den Gefrierschrank zu nutzen, weil das kein „natürlicher“ Weg sei. So bleibt ihm nur das Einlegen in Essig für die Vorratshaltung, was auch auf Kosten der Abwechslung am Speiseplan geht. Nach drei Monaten seines Experiments hängt es ihm ziemlich zum Hals raus:

„Nach meiner Berechnung habe ich seit Oktober achtundfünfzig Kaninchen gegessen. Ich habe Kaninchen gebraten, gegrillt, am Spieß und gekocht zu mir genommen, als Kaninchen in Cider und als Kaninchen in Holunderwein. Ich habe Kaninchen zum Frühstück, als Brunch, als Mittagessen, zum Tee und abends oder nachts gegessen. Ich habe versucht, den Geschmack von Kaninchen mit Pilzen, Bärlauch, wildem Thymian, Hagebutten, Wildapfelgelee und Brombeergelee zu übertönen. Kaninchen, Kaninchen, Kaninchen. Schon bei dem Wort muss ich würgen.“

Alkohol sind auch nur flüssige Kalorien

Doch auch der längste Winter mit seinen Entbehrungen geht einmal vorbei, und um diese harten Zeiten zu überbrücken stehen im zumindest andere Hilfsmittel zur Verfügung. Es ist erstaunlich, mit wieviel Aufwand Lewis-Stempel während dieses ganzen Jahres versucht, Alkohol herzustellen. Er braut Bier aus Brennesseln, Löwenzahn und Kletten, macht aus Äpfeln Cider und lässt Brombeeren und Holunderbeeren zu Wein vergären, um sein Experiment durchzuhalten. „Der Gedanke an einen Abend ohne Alkohol macht mich kribbeliger als der Gedanke an einen Tag ohne Essen. Etwas muss die scharfen Kanten dieses Lebens rundschleifen", gesteht er. "Dieser Gedanke, das weiß ich, ist vielen früheren Bewohnern von Trelandon auch gekommen. Ich kenne nämlich ihre Trinkgewohnheiten.“

Lewis-Stempel lässt während seines Experiments immer wieder zu Exkursen hinreißen, recherchiert in der örtlichen Bibliothek zu Lebensweisen seiner Vorgänger, ihren Getränken und Nahrungsmitteln. Von diesen Exkursen - und natürlich dem Ausgang des Experiments, seinen Windungen und Volten - lebt das Buch. Als Anleitung zum Überleben von der Natur ist es nur bedingt zu gebrauchen, auch weil - wie schon am Anfang des Buches steht, bei uns die Jagd- und Naturschutzbestimmungen ungleich strenger sind.

Ganz besonders ist aber Lewis-Stempels Beobachtungsgabe hervorzuheben, die ihm schon mehrfach Auszeichnungen als bestem „Nature Writer“ - ein wohl nur in England übliches Genre - eingebracht hat, und sein Humor, der in seinen schwachen Stunden, seinen kreativen Problemlösungen und bei Gewissensfragen besonders zur Geltung kommt. Was soll der hungrige Autor etwa mit dem verletzten Fasan anstellen, den die siebenjährige Tochter anschleppt, damit Daddy ihn „versorgt und repariert“? "Hier fallen sämtliche Aspekte eines grimmschen Märchens zusammen. Anstatt in Sicherheit gebracht zu werden, ist der Fasan einem hungrigen Wolf ausgeliefert worden“, wie es der Autor selbst feststellt. Seine Lösung für das Dilemma ist, wie so vieles in dem Buch, überraschend und ein Schmunzeln wert.

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