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Popstars würden killen für IDERs Debüt „Emotional Education“

Das Duo IDER aus London hat mit „Emotional Education“ ein perfektes Pop-Album veröffentlicht und das ohne eine Heerschar an Songschreibern, Features und Social-Media-Agenten zu verbrauchen.

Von Christian Lehner

„Ich glaube, man nennt es Poptimismus“, sagt der Mann, der mit dieser Geschichte eigentlich gar nichts zu tun hat. Oder doch. Nic Offer von der New Yorker Dance-Punk Band !!! erzählt vom neuen Album seiner Truppe. Es sei sehr „pop“ und sehr „90ies“, sagt Offer. Heute, da Billie Eilish und Co. das Post-Genre-Zeitalter des Pop feiern, also jede populäre Musik Pop ist, scheint Offers Betonung dieser Merkmale überflüssig. Aber sowohl er, als auch sein Fragensteller, also ich, können sich an eine andere Zeit erinnern.

„Ich bin in den 1980er-Jahren aufgewachsen“, so Offer. „Damals war Pop ein Schimpfwort für Menschen, die dem Mainstream nichts abgewinnen konnten.“ Der Mitvierziger bringt ein schlagendes Beispiel: „Damals nannte Morrissey Madonna und Prince Idioten. Das war für viele nachvollziehbar und cool. Aber heute ist Morrissey der Idiot und wir alle würdigen die Verdienste von Madonna und Prince. Pop ist nicht mehr der Feind. Pop ist überall. Wo aber ist Morrissey?“

Poptimismus 2019

IDER sind Pop. Als Nic Offer noch ein Teenager war, hätte das Duo aus London vielleicht Punk gemacht, als er zur Generation X wurde, wahrscheinlich Riot-Grrrl-Musik oder Indie Rock. Doch IDER sind jetzt in ihren Zwanzigern. Und deshalb machen die beiden Pop. So wie die Schwestern von Haim, mit denen sich IDER den Fleetwood-Mac-Gesangsstil teilen, so wie Charli XCX, die ebenfalls auf große Gefühle und Refrains setzt, so wie viele andere zeitgenössische und progressive Pop-Musikerinnen – von Christine And The Queens über Tegan and Sera bis zu Marika Hackman, oder Rapperinnen wie Lizzo, K.Flay und Cupcake.

Sinnlich fordernd: Charli XCX und Christine and the Queens.

Ihnen allen gemein ist der feministische Akt des Lustausgleichs. Während Frauen im Pop bisher überwiegend die Rolle der Sich-Hingebenden gespielt haben (not you Grace Jones!), findet in vielen zeitgenössischen Lyrics ein Perspektivenwechsel statt – von der Gejagten zur Jägerin, wie es Anna Calvi auf ihrem letzten Album Hunter formulierte.

IDER

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Bei IDER funktioniert diese Selbstermächtigung wie selbstverständlich. „Brown Sugar“ ist ein Sex-Song, der keinen Beipackzettel braucht. Es geht um das im Pop übliche Begehren und Werben. „I put myself right at the top of your plate, I knew I’d be something you’d wanna taste”, singen Megan Markwick und Lily Somerville von IDER.

Millennial Stress-Test

Die zwei haben sich vor sechs Jahren in Cornwall an der Musikuniversität kennengelernt. Sie teilen sich eine Wohnung im Norden Londons und beschreiben ihr Verhältnis als schwesterlich. So wie sie singen, sich in den Videos gegenseitig channeln und auf den Bandfotos posieren, könnte man meinen, die zwei sind ein Paar. Doch IDER geht es thematisch offensichtlich nicht um sexuelle Polung, sondern um Sex an sich. „Don’t need to complicate it, say it how I mean it, how I mean it”, heißt es weiter in “Brown Sugar”.

Selbstbestimmter Sex ist nur ein Thema auf dem etwas sperrig betitelten IDER-Debütalbum „Emotional Education“. Die stundenlangen BFF-Gespräche, die Partys und Beobachtungen im Freundeskreis lassen die Texte aus dem Persönlichen ins Allgemeine schwappen und Überlegungen in Richtung Generationsbefindlichkeiten anstellen. So handelt der Song „Saddest Generation“ von der psychischen Erkrankung einer vertrauten Person und macht dann den Schritt hin zur allgemeinen Beobachtung.

Im Chorus singen IDER „One in four“ und beschreiben damit den Anteil der Jugendlichen Englands, der mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Wir haben es bei „Emotional Education“ mit einem Millennial-Stress-Test zu tun, der sich Themenkomplexen wie Gender, Identität und Liebe im Tinder-Zeitalter annimmt.

Das alles wäre freilich nur Papier ohne die Musik. IDER ist mit „Emotional Education“ ein perfektes Pop-Album gelungen. In einer Zeit, in der Popstars als Berufsbezeichnung „Singer-Songwriter“ in die Steuererklärung schreiben, obwohl sie das Texten und Komponieren an eine Dutzendschaft von Songschreibern, Produzenten und Komponisten delegieren, haben IDER sämtliche Angebote in diese Richtung abgelehnt.

I put myself right at the top of your plate, I knew I’d be something you’d wanna taste.

Das könnte sich für den Fortlauf der Karriere als genialer Move erweisen, denn Megan Markwick und Lily Somerville verfügen über ein hervorragendes Gespür für Melodien, Hooks und alles andere, was es 2019 für einen Hit braucht. Popstars würden für Songs wie „Wu Baby“ oder „Busy Being A Rockstar“ killen.

Bei der Umsetzung der Songs haben zwar die Produzenten von MyRiot und Rodaidh McDonald (The xx, Sampha) geholfen, doch jedes Lyric und jede Note stammt aus der Feder von Megan und Lily.

Keine Lohnschreiberinnen

„Emotional Education“ ist inhaltlich und musikalisch ambitioniert, ohne dabei kopflastig und kompliziert zu klingen. IDER gießen angesagte Genres und Themen in ein Streaming- und radiofreundliches Format. Das Album besteht aus 11 größeren und kleineren Hits.

Modische Produktionsstandards wie Trap Beats, oder der sogenannte Millennial-Whoop treffen auf einen klassische Harmoniegesang, wie man ihm bereits bei Simon & Garfunkel und zuletzt bei First Aid Kit erlegen ist. Das alles ist möglich im Poptimismus von 2019. Trotz Generations-Blues muss man sich um IDERS Zukunft keine Sorgen machen. Man darf gespannt sein, ob die zwei Unabhängigen bald selbst an prominenter Stelle als Features oder Co-Songschreiberinnen auftauchen.

Warum Nic Offer trotzdem denkt, dass die Zeit des Poptimismus-Paradigmas bald vorbei sein könnte, erfahrt ihr Ende August, wenn das neue Album von !!! erscheint.

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