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Wilco-Sänger Jeff Tweedy und seine Autobiographie: „Let’s Go (So We Can Get Back)“

Zehn Alben, ein Grammy. Änderungen im Band-Line-Up, Streit mit Major-Labels, Drogen, Einsamkeit, Verlust. Mit „Let’s Go (So We Can Get Back)“ schreibt Wilcos Jeff Tweedy über 25 Jahre Band- und Lebensgeschichte. Lesenswert, auch für Nicht-Fans.

Von Lisa Schneider

„Niemand will das Auge der Katze essen“. Gute Bücher, demnach auch gute Autobiographien, beginnen mit Sätzen wie diesem. Jeff Tweedy, Gründer und Frontmann der Band Wilco, eröffnet so seine Memoiren „Let’s Go (So We Can Get Back)“. Ohne die Kraft dieses Satzes zerstören zu wollen: Es geht dabei um einen Kuchen, der plötzlich immer im Backstagebereich auftaucht, weil scheinbar ständig jemand glaubt, das Cover des damals aktuellen Wilco-Albums „Star Wars“ in Zuckerglasur umsetzen zu müssen. Darauf abgebildet: das eher hässliche Porträt einer Katze, das sonst im Wilco-Proberaum in Chicago hängt.

Wilco Rehearsal Loft

Jason Verlinde / Fretboatjournal

Wilcos Proberaum „The Loft“ in Chicago

Es ist nicht das erste Buch, das Jeff Tweedy schrieb, aber das erste, in dem er sein Leben, das musikalische wie das private, von ganz vorne aufrollt. Wir lernen den kleinen Jeff, „Boy“, wie ihn sein alkoholkranker Vater nennt, kennen. Er wächst in Belleville, einer überschaubaren Provinzstadt in Illinois, auf. Jeff Tweedy fühlt sich wie ein Einzelkind, dabei ist er gar keines: Er ist nur der Nachzügler, von seinen Eltern mal mehr, mal weniger liebevoll als „Unfall“ bezeichnet. „Ich war keines der coolen Kids. (...) Aber ich war der Typ, der vor seinen Kumpels in Tränen ausbrechen konnte und dem es egal war, was sie dachten.“

Von Uncle Tupelo zu Wilco

Im Elternhaus gibt es nicht viel Musik, wie Jeff Tweedy schreibt, sein Vater hat da eine eher eine „monogame Beziehung“ gepflegt - sprich, er hat einen Song ein Jahr lang gehört, dann kam der nächste dran. The Beatles, The Monkees. Eher heimlich beginnt Jeff Tweedy Platten von The Clash, den Sex Pistols oder The Replacements zu kaufen, bis er in der Schule einen ersten Seelenverwandten trifft: Jay Farrer.

Mit ihm gründet er 1987 seine erste Band, Uncle Tupelo, sie veröffentlichen vier Alben, bis die zwei Songschreiber und Sänger es nicht mehr miteinander aushalten. Ein ähnliches Schicksal sollte sich auch später, mit Wilco, wiederholen - Gitarrist Jay Bennett wird die Band später unter ähnlichen Umständen verlassen. Nur war es diesmal eben die von Tweedy 1994 gegründete - also seine - Band. Sie macht weiter.

Wilco 1996

Ken Weingart

Wilco 1996: John Stirratt, Ken Coomer, Jeff Tweedy und Jay Bennett

In den letzten 25 Jahren haben sich Wilco in Alt-Rock-, Country-Folk- und Chamber-Pop-Kreisen einen kleinen Legendenstatus erspielt. Sie sind immer auf sicher nicht nur gewollte, aber trotzdem ganz elegante Weise unter dem Kommerz-Radar entlanggeschrammt. Und das trotz bisher zehn veröffentlichter Alben, Grammy-Nominierungen (und einem Gewinn in der Kategorie „Best Alternative Album“ für „A Ghost Is Born“). Und das auch, obwohl Jeff Tweedy sich längst einen Namen als Produzent und Songschreiber auch für andere Künstler und Künstlerinnen wie Leslie Feist oder Mavis Staples einen Namen gemacht hat.

Wilco pflegen das subtile Understatement nicht nur in ihrer Musik, sondern auch im Auftreten: Sie wirken immer eher wie die angenehmen, mittlerweile in die Jahre gekommenen Nachbarn, die zu später Stunde im Garten das Oeuvre von Kraftwerk diskutieren, als die, die durch auffälliges Benehmen die Klatsch-Spalten füllen.

Kein Alkohol, aber Drogen

Die Dramen spielen sich bei Wilco hinter den Kulissen ab. Erwähnte Wechsel im Line-Up der Band, aber auch, wie Jeff Tweedy in „Let’s Go“ erzählt, seine Schmerzmittelabhängigkeit über Jahre, sowie seine wiederkehrenden Migräneanfälle und Panikattacken.

„Die Jungs sahen mich nur während des Teils meines Tages, an dem ich am funktionsfähigsten war. Wie mein Vater war auch ich immer in der Lage, ein Arbeitsethos aufrechtzuerhalten und mich nicht vor meinen Pflichten zu drücken. Ich war nicht immer spirituell so anwesend und geistig so wach, wie ich es hätte sein sollen, aber mein Körper war stets zur Stelle.“

Auch, wenn Tweedy im Vorwort einräumt: „Verschreibungspflichtige Schmerzmittel werden keine Erwähnung finden“, revidiert er die Aussage einige Zeilen später: „Der letzte Teil war natürlich ein Witz. Himmelherrgott, natürlich werde ich über die Drogen schreiben.“

Dem Alkohol schwört Jeff Tweedy mit 23 Jahren ab, um „einer genetischen Vorbestimmung zu entgehen“. Die Erinnerungen an den Großvater, der an der Bar lehnend, die Nase rot und aufgedunsen, den kleinen Jeff angewiesen hat, zum Zeitvertreib Zigarettenstummel aufzusammeln, lesen sich bitter. So auch die Erzählungen über seinen Vater, der sein Leben zwischen Bierdosen und seinem Job, bei dem er „irgendwas bei der Bahn macht“, fristet.

„Zum Glück ging mir irgendwann eine Menge am Arsch vorbei“

Es ist einmal mehr die Geschichte vom Musiker, der sich in der amerikanischen Kleinstadt in die aufkommende britische Punkmusik verliebt, sich seine erste Gitarre wünscht, sie kurz darauf aber verflucht und zur Seite stellt. Nicht nur diese Sequenz in Tweedys Memoiren erinnert an das Aufwachsen von Bruce Springsteen in New Jersey. Weil auch, wenn Jeff Tweedy allein schon der selbstauferlegten Außenseiter-Coolness wegen Springsteen immer eher skeptisch gegenübergestanden hat (vor allem weil all seine Mitschüler, die keine Ahnung von Musik hatten, Alben wie „The River“ und all den anderen Classic Rock der 80er Jahre gehört haben), er dem „Boss“ zugestehen muss: „Springsteen dagegen würde uns alle retten, ob wir wollten oder nicht.“

Jeff Tweedys Autobiographie ist dazu auch ein Stück erzählter Musikgeschichte an der Schwelle zum Streamingdienst-Zeitalter: „Zuweilen sehe ich mich als Angehörigen des letzten Stammes, der es vor der Zeitwende über den großen Graben geschafft hat, bevor die Leute wegen des Internets begannen, jede Musikära gleichzeitig zu hören. Als ich damit anfing, Platten zu machen, war jedes neue Ding direkt auf denen davor aufgebaut. Die Zeit war linear.“

Gut, wer sich selbst nicht zu ernst nimmt

Warum liest man die Autobiographie eines Musikers? In erster Linie, weil man ein Fan ist. Was aber eine Autobiographie zu einer guten Autobiographie macht, ist die Tatsache, dass man sie auch dann sehr gerne liest, wenn man zum Oeuvre besagter Band keinen persönlichen Zugang hat. Es vielleicht gar nicht kennt.

Jeff Tweedys Sprache ist aus dem Leben gegriffen, ehrlich, unterhaltsam, selbstironisch. Sie ist ein an den richtigen Stellen zynischer Erlebnisbericht der letzten 25 Jahre Band- und Lebensgeschichte: „Jeder Song, der jemals der Vorstellungskraft eines Menschen entsprungen ist und in Töne und Wörter übersetzt wurde, ist grundsätzlich schwächer als sein Potential. Wenn ein Song durch mein Unterbewusstsein rasselt, ist er immer noch grenzenlos, was bedeutet, dass ich noch keinen Weg gefunden habe, ihn zu versauen.“

„Let’s Go“ ist aber vor allem auch eine Geschichte über die verschiedenen Arten, wie Musik Lebensumstände erschüttern und verändern kann; wie sie Leid, Schmerz und Verlust erträglich macht. Und das, ohne in die Klischeefalle zu tappen: „Ich glaube allerdings nicht, dass es Leid braucht, um bedeutende Kunst zu erschaffen. Im Gegenteil, ich hasse diese Idee. (...) Ich glaube, dass Künstler trotz ihres Leidens kreieren, nicht wegen.“

Cover Jeff Tweedy "Let's Go"

Kiepenheuer & Witsch

Jeff Tweedy’s Autobiographie „Let’s Go (So We Can Get Back)“ erscheint in einer deutschen Übersetzung von Tino Hanekamp im Verlag Kiepenheuer & Witsch.

An einigen Stellen im Buch versagt Jeff Tweedy die Sprache, wenn es etwa darum geht, über die mehrmalige Krebserkrankung seiner Frau Susie zu schreiben. Oder darum, wie es seinen Söhnen Spencer und Sam mit ihrem tourenden, süchtigen Vater gegangen ist. Dann flicht Jeff Tweedy die Wiedergabe von Dialogen ein, die er mit seiner Frau oder seinen Söhnen zu diesen Themen geführt hat. Diese Einschübe sind ehrlich gut gemeint, wirken aber im sonstigen Lesefluss zu konstruiert. Ihnen fehlt der Witz, das Unaufgesetzte der sonstigen Erzählweise.

„On and on and on“

Der Titel von Jeff Tweedy’s Buch „Let’s Go (So We Can Get Back)“ war ein oft wiederholter Ausspruch seines Vaters, der mittlerweile verstorben ist. Er beschreibt den Drang, vorwärtszukommen, und gleichzeitig den Wunsch nach einem sicheren Rückzugsort. Einer, an dem sich nichts ändert. Dass es den nicht gibt, gar nicht geben kann - darüber hat Jeff Tweedy sein Buch geschrieben. Seine eigene, aber auch die Verwundbarkeit anderer, die Tweedy in so vielen Wilco-Texten offengelegt hat, mag ihm in der Schule früher Prügel eingebracht haben. Als Songwriter hat sie ihn schlussendlich aber zum Erfolg geführt:

„Ich wollte über den Teil meines Wesens schreiben, ihn verstehen und mit anderen teilen, der es mir immer ermöglicht hat, mich verwundbar zu machen. Nur so konnte ich an einen Punkt kommen, der es mir erlaubte, um Hilfe zu bitten und sie auch zu akzeptieren.“

Das neue und elfte Album von Wilco, „Ode To Joy“, erscheint am 4. Oktober.

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