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Quentin Tarantino, eine Szene aus König der Löwen von Disney und Susan Sontag in einer Collage

APA/AFP/VALERIE MACON/ The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH

Ideologie vs Ästhetik: Steckt die Filmkritik in einer Sackgasse?

Was geht noch und was nicht? Oder geht nichts mehr? Die zeitgenössische Filmwahrnehmung nimmt immer extremere Züge an. Eine persönliche Polemik, mit Hilfe eines Essays aus dem Jahr 1964.

Von Christian Fuchs

‘The Lion King‘ is a fascistic story”, titelte die renommierte “Washington Post” unlängst einen Leitartikel. Szene für Szene seziert Autor Dan-Hassler-Forest in dem kontroversen Text das gefeierte Zeichentrickepos aus dem Hause Disney. Und kommt zu dem Schluss, dass auch das aktuelle Animations-Remake an dem bestürzenden Befund nichts ändert. Denn, so folgert der Journalist, selbst wenn jetzt der afroamerikanische Polit-Rapper Donald Glover den kleinen Löwen Simba spricht: Die Story bleibe faschistisch.

Ohne jetzt im Detail auf die Vorwürfe in diesem Artikel einzugehen, alles in allem geht es der „Washington Post“ um die Herrschaftsverhältnisse im Löwenland. Nicht wilde Tiere würden in Wirklichkeit im Mittelpunkt des Films stehen, klärt der Schreiber auf, sondern menschliche Gesellschaftsstrukturen.

Und mit seiner Erzählung vom mächtigen Löwenpatriarchen, der auf die schwächeren Gruppen in „Prideland“ herabsieht, von einem mächtigen Felsen, der Hassler-Forest tatsächlich an den Trump-Tower erinnert, stehe „The Lion King“ für Powerkapitalismus und das Recht des Stärkeren. Natürlich repräsentieren in diesem Kontext die Hyänen die an den Rand gedrängten Außenseiter, die black, brown and disabled bodies, die aus der Hierarchie ausgeschlossen sind.

Szenenbild aus König der Löwen von Disney

The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH

Reduktion auf den Inhalt

Nachdem ich den besagten Film erst vor kurzem zum ersten Mal gesehen habe und eigentlich über recht ausgeprägte Nazi-Alarmglocken verfüge, bin ich beim Lesen verwirrt. Erklärt da ein Kritiker echt seinem Publikum, dass Tiercharaktere im Entertainmentkino als Metaphern für Menschen stehen? Ernsthaft? Geht es nicht in sämtlichen Märchen und Fabeln seit Jahrhunderten genau darum?

Und wenn die Machtordnungen in „The Lion King“ angeblich an das Dritte Reich erinnern, was ist dann mit anderen überlebensgroßen Populärmythen des Kinos? Gehört die „Star Wars“ Saga mit all ihrem Majestätsprotz dann auch in den Giftschrank wie die von Königen besessene „Lord of the Rings“ Trilogie? Müssen wir dann erst recht alle Historienepen entsorgen, in denen junge hitzköpfige Buben zu alten weißen Herrschern heranwachsen, denen das proletarische Volk zu Füßen liegt? Dürfen wir solche reaktionären Eskapismus-Spektakel noch ansehen?

Der „Washington Post“ Text steht paradetypisch für eine Tendenz in der aktuellen Filmkritik, die der Sarkastiker Bret East Ellis mit „Ideologie gegen Ästhetik“ beschreibt. Filme werden von den Vertreter*innen dieser Denkschule nicht als ganzheitliches sinnliches Erlebnis wahrgenommen, als Symphonie aus Bild und Ton. Sondern auf ihren Inhalt reduziert. Und dieser Inhalt - egal ob er von den gesellschaftlichen Umbrüchen der letzten Jahre geprägt ist oder aus älteren Dekaden stammt – muss streng nach ideologischen Verfehlungen gescannt werden.

Dabei ist im Grunde nichts leichter als die klinische Welt des Disney-Imperiums von einem linken Blickwinkel aus zu dekonstruieren. Zumal Begründer und Ober-Märchenonkel Walt D. als glühender Antikommunist von sich reden machte und von antisemitischen Vorwürfen verfolgt wurde. Aber eventuell, wage ich einzuwerfen, ist es spannender nach subversiven Momenten in all den Disney-Filmen zu suchen. Widersprüchlichkeiten anzuerkennen. Pychologisch und philosophisch komplexe Momente mitten im Mainstream zu entdecken. Wie zum Beispiel den animierten Existentialismus, der „The Lion King“ durchzieht, verkörpert durch die Figuren Pumba und Timon. „Life is meaningless“ doziert letzterer, ein kleines Erdmännchen, und erweist sich als kindliche Verkörperung eines Nihilismus, der viele Jugendkulturen prägt. Kein Wunder, dass „Hakuna Matata“ deren Motto wurde.

Szenenbild aus König der Löwen von Disney

The Walt Disney Company (Switzerland) GmbH

Interpretieren heißt die Welt arm und leer machen

Möglicherweise reicht es aber auch, dass sich beim Kinoerlebnis all diese analytischen Gedanken manchmal nur im Hinterkopf abspielen. Weil es gar nicht immer um die Bedeutung geht. “Indem man das Kunstwerk auf seinen Inhalt reduziert und diesen dann interpretiert, zähmt man es. Die Interpretation macht die Kunst manipulierbar, bequem“, sagt die Kulturtheoretikerin und Schriftstellerin Susan Sontag, allerdings bereits in einem Aufsatz von 1964.

„Gegen Interpretation“ heißt dieser berühmte Text, enthalten in der Essaysammlung „Kunst und Antikunst“. Generationen von Student*innen wappneten sich mit Hilfe von Susan Sontag gegen den akademischen Druck mit den „agressiven und pietätlosen Interpretationstheorien“ von Freud und Marx an die Kunst heranzugehen. „Interpretation“, attackierte die Autorin, „ist die Rache des Intellekts an der Welt. Interpretieren heißt die Welt arm und leer zu machen - um eine Schattenwelt der ‚Bedeutungen‘ zu errichten."

Buchcover "Against Interpretation" von Susan Sontag

Modern Classics

Bevor jetzt jemand, der die 2004 verstorbene Sontag nicht kennt, ihr konservatives Gedankentum unterstellt: Die scharfe Regierungskritikerin und Menschenrechts-Aktivistin entstammt dem linken Universitätsmilieu. Irgendwann in den frühen sechziger Jahren platzt der leidenschaftlichen Literatur- und Film-Liebhaberin aber scheinbar der Kragen. Immer mehr Rezensenten ignorieren damals das „äußere Erscheinungsbild“ von Kunstwerken, lassen es nicht auf sich wirken oder sich gar davon vereinnahmen. Sondern stürzen sich, akademisch geschult, direkt auf die Exegese. Da werden Bücher von Franz Kafka, um ein Beispiel aus „Gegen Interpretation“ zu zitieren, blitzschnell zur sozialen oder psychoanalytischen Allegorie. Susan Sontag spricht in diesem Zusammenhang von einer „Massenvergewaltigung durch nicht weniger als drei Armeen von Interpreten.

So leidenschaftlich Sontag gegen die „meistgepriesenen und einflussreichsten modernen Lehren“ der Interpretations-Ideologen kämpft, so offen ist übrigens ihr Kunstbegriff. In allesamt einflussreichen Essays schwärmt sie von Jean-Luc Godard, Robert Bresson, dem Marquis de Sade oder japanischen Monsterfilmen. Besonders ihre „Anmerkungen zu Camp“, die sich vor dem Trivialen und vermeintlich Banalen verbeugen, erweisen sich als revolutionär.

Die cinephile Obsession

Nicht nur wegen ihrer gleichzeitigen Obsession für High-Art und Low-Art könnte man Susan Sontag als Vorreiterin und Ikone der cinephilen Bewegung sehen. Auch weil sich der Wert von Kunst für die Theoretikerin über ihren rituellen, zauberhaften, verführerischen Charakter erschließt. „Heute“, notiert sie 1964, „geht es darum, dass wir unsere Sinne wiedererlangen. Wir müssen lernen, mehr zu sehen, mehr zu hören und mehr zu fühlen.“

Susan Sontags Sätze könnte man als Leitmotiv einer Szene sehen, die sich im Underground der Blogs und Fanzines sammelt. Cinephile konzentrieren sich auf die Form statt auf den Inhalt. Sie stürzen sich auf die rauschhaften Qualitäten des Mediums Film, auf Farben und Klänge. Sie betrachten aber auch das Material (vorzugsweise analog und 35mm) fetischistisch und verehren vor allem den Ort Kino als Kathedrale. Um den Kontrast zur ideologischen Filmwahrnehmung besonders stark herauszuholen: Während ein Schreiber des „Guardian“ findet, man sollte Quentin Tarantino wegen seinem vermeintlich katastrophalen Frauenbild boykottieren, präsentieren cinephile Festivals die geballten Schund-Vorbilder des Regisseurs aus den 70er und 80er Jahren: Brutale Exploitation-, Trash- und Splatter-Filme, deren Inhalte wie ein Katalog voller Trigger Warnings wirken.

In ihrer radikalsten Ausformung übersieht die Cinephilie dabei in ihrer Begeisterung für irrlichternde Akteure, körperliche Tabubrüche, grelle Kodachromebilder und flirrende Soundtracks manchmal bewusst den heftigen Inhalt, der manche Uni-Seminargruppen wohl verstört aus dem Saal treiben würde. Für die obsessivsten Vertreter*innen der Kino-Religion zählt auch bei 70ies-Porno-Produzenten oder der Propagandafilmerin Leni Riefenstahl nur die ästhetische Oberfläche.

Quentin Tarantino am Set von "Once Upon A Time...in Hollywood"

Sony Pictures Releasing Switzerland GmbH

Quentin Tarantino am Set von „Once Upon A Time...in Hollywood“

Die klugen Cinephilen - und sie sitzen in Filmmuseen, Archiven und Programmkinos oder programmieren großartige Horrorfestivals - legen dagegen auf Brechungen und Widersprüche Wert, sie feiern die Ambivalenz. Abseits simpler Schablonen erweist sich der „Busenfilmer“ Russ Meyer plötzlich als Einfluss auf Teile der feministischen Burlesque-Bewegung. Der als reaktionär gebrandmarkte Regisseur Sam Peckinpah wird mit seinen späten Antiwestern zum künstlerisch atemberaubenden Totengräber des amerikanischen (Alb-)Traums. Und italienische Giallo-Schocker, die bevölkert von irren Psychokillern und halbnackten weiblichen Opfern sind, erweisen sich als perverse Zeitgeist-Zerrbilder einer vergangenen Epoche, verpackt in delirierende Filmkunst.

Die pure Magie des Kinos einsaugen

Oder nehmen wir Kathryn Bigelow, Oscar-Preisträgerin und Aushängeschild der viel zu wenigen Regisseurinnen in Hollywood. Aus einer ambivalenten Perspektive betrachtet ist ihr Kriegsdrama „Zero Dark Thirty“ kritisch gegenüber der Folterpolitik der US-Geheimdienste, gleichzeitig rechtfertigt der Film die eisig gezeigte Ermordung von Osama Bin Laden. Er stellt eine starke Frau ins Zentrum und lässt sie gegenüber der Staatsmacht resignieren. Man könnte „Zero Dark Thirty“ beinahe in jedes politische Eck stellen - und dabei hätte man noch nicht erwähnt, dass der Film extrem spannend inszeniert und formal atemberaubend ist.

Kathryn Bigelow am Set von "Zero Dark Thirty"

Universal Pictures

Kathryn Bigelow am Set von „Zero Dark Thirty“

Was heißt das nun alles für die Filmkritik der Gegenwart? Vielleicht im Andenken an Susan Sontag die sensorischen Fähigkeiten wieder zu schulen. Kameraeinstellungen wie einen genialen Pop-Refrain zu genießen. Den (ideologischen) Subtext nicht nur dort zu finden, wo er offensichtlich ist, sondern sich auch über versteckte Botschaften an unerwarteten Stellen freuen. Die Magie des Kinos ersteinmal einsaugen, egal ob es sich um den Viennale-Beitrag einer queeren Avantgardefilmerin handelt, um einen schockierenden Indie-Thriller oder um ein Disney-Massenprodukt. Die „Wahrheit“, wenn es denn überhaupt eine gibt, liegt im Dazwischen. Oder tut oft auch weh. „Wirkliche Kunst“, sagt Susan Sontag, „hat die Eigenschaft uns nervös zu machen.

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