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Tanzunterricht und Sprechstunde bei Jarvis Cocker am OFF Festival

Der wortgewandte, gewaltige, humorvolle und einer der interessantesten Zeitzeugen der Britpop-Ära begeistert mit seinem „Jarv Is“ Projekt das Publikum am Off Festival in Polen.

Von Susi Ondrušová

Anfang August findet im Süden Polens, in Katowice, das OFF Festival statt. Ein Must-Visit-Festival im Sommerkalender für geschmackssichere Open-Air Musikfans. Wer seine Livekonzerte-Batterien im Frühsommer auf dem Primavera auflädt, kann im August in Katowice gleich weitertanken. Das Lineup lockte mit Indie-Ikonen wie Suede, Stereolab oder Jarvis Cocker. Mit den 2019 Mercury Prize Nominees Foals, Black Midi oder slowthai hatten die Organisatoren auch heuer wieder ihr Händchen am Puls der Zeit.

Ein Laut der Erlösung

Jarvis Cocker hat ein erinnerungswürdiges Verhältnis mit Polen. 2011 hat er im Rahmen der Pulp-Reunion Tour auf dem Open’er Festival in Gdansk gespielt. Ein Weltuntergangskonzert, eine Open-Air Dusche. „One of the wettest concerts I´ve ever been at” erzählt er und erinnert das Publikum daran, dass er seine Band im letzten Jahrhundert gegründet hat, dann stimmt er einen Song an:

„Only hardcore fans will know!“
Kreisch
„But not that one!“
Kreisch
“His&Hers“

Wir kreischen. Ein Laut der Erlösung. Einer der Fans, die ich in der ersten Reihe treffe erzählt, dass Jarvis mit diesem Lied das Publikum in die 90er zurückversetzt hat. Sie, diese erwachsene Gestalt, die im schwachen Scheinwerfer-Licht vor der Bühne in ein gelbes Mikro spricht, sieht Jarvis heute das erste Mal bequem in der ersten Reihe. Als ich sie Frage ob sie Pulp nie gesehen hat, sagt sie: „No, I was 11!“

Fotos vom OFF Festival

SpontanProductions

2019 ist ein gutes Jahr um Jarvis Cocker Fan zu werden. Für sein neues Projekt „Jarv Is“ das dem Namen nach zu urteilen auf Papier entstanden ist und auf Festivalplakaten mit vollem Namen den meisten Platz einnimmt und Grafikern wohl die Haare räuben würde, aber die Mehrheit liebt Jarvis also egal, ja für sein neues Projekt gibt es auch ein Manifest! Eine Bedienungsanleitung unter der man sich alles vorstellen kann, was sein soll:

„JARV is an experiment
JARV is a night to remember
JARV is a live experience with no barriers
JARV is & always will be.”

Mit so einer Absichtserklärung ist man natürlich gut dabei in der Superlativ-Erwartungshaltung und schon beim ersten Catwalk auf die Bühne und das im Zentrum platzierte Frontman Podest, auf dem in grossen Buchstaben EVOLVE steht, gibt es inneren Confetti-Regen. Klatschen, Kreischen, die Laute der Erlösung: ES IST SO WEIT! ER IST DA!

Schrei nach Veränderung

Jarvis Cocker hat für den Abend das gemacht, was jede Band auf Auslandsreise machen sollte: die Sprache gelernt. Nach dem Opener Song „Sometimes I Am A Pharaoh“ wird er die Songs im Set auf polnisch ansagen, erzählen dass sein Lieblingswort auf polnisch „Uwaga“ ist. Achtung! Vorsicht! Und fragen ob seine polnisch Kenntnisse reichen um einen Job in Polen zu bekommen oder ob sich sein berufliches Schicksal in diesem Land auf Ausdruckstanz beschränken wird. Jarvis wird alle im Publikum, die Evolution studieren, um Verzeihung bitten. „Our version of evolution is not accurate!“ Seine Evolutionstheorie ist ein Schrei nach Veränderung, ein Abgesang an den Stillstand, der so klingt:

No, no, no, no
No, no, no, no
No, no, no, no
No, no, no, no
No, no, no, no
No, no, no, no
No, no, no, no

Foto vom Jarvis Cocker Auftritt am OFF Festival

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Die Bühne teilt sich Jarvis Cocker mit drei Musikern und zwei Musikerinnen: neben Schlagzeug und Bass, sehen wir ein Bandmitglied mit Laptop am Electronics-Pult stehen, eine Geigenspielerin, die auch Saxophon, Gitarre und Mikro ergreifen wird und eine Keyboardspielerin, die abwechselnd auch Harfe spielt. Ein Abgesang an den Stillstand, die 0815 Instrumente einer Rockband also.

Kekse fürs Publikum

„What is the ultimate sign of civilization? Sharing!” fragt Jarvis in der Mitte vom Konzert. Spätestens an dem Punkt weiß man, dass die Bühnenansagen beim Konzert mindestens so lange werden wie die Songs, die die Band spielen und Jarvis sie tänzerisch darstellen wird. (Hüfte, viel Hüfte. Arme, viel ausgestreckte Arme) Die Bühnenansagen werden allerdings zum Klebstoff, der den Abend in seiner Perfektion zusammenhalten wird.

Jarvis, der Entertainer, hat an alles gedacht: zum Beispiel an die Kekse in seiner Jackentasche, die er ans Publikum verteilt. Er erinnert seine Fans daran, dass selbst wenn wir als Teil der Gesellschaft immer das Gefühl haben etwas zu vermissen uns nicht beirren lassen sollen: es ist alles in uns drinnen. „The universe out there is big. But the universe in here is just as big!” sagt er und greift nach seinem Herzen.

Fotos vom OFF Festival

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Der angekündigte intime Teil beim Konzert, die „live experience with no barriers” folgt nach „His&Hers“ der einzigen Pulp Nummer des Abends als Jarvis in die erste Reihe geht und im grellen Scheinwerfer zwei Fans das Mikro unter die Nase hält: „What are you most afraid of?“ fragt er. Ein Fan namens Irena antwortet „That this night might end!”

“Yes but in here it might stay forever!” sagt Jarvis verständnisvoll und erinnert an die universelle Angst von der schon Nick Cave in seinem Film „20.000 Days on Earth“ berichtet hat: von der Angst zu vergessen und vergessen zu werden.

Jarvis meint: „I will not forget this moment. Irena will you forget this moment?” Never sagt Irena!

Als zweiten Fan in der ersten Reihe besucht Jarvis einen Michael, der ihm einen Stift und eine Pulp Platte entgegenstreckt: „If I sign this will you tell me what you´re afraid of?“ Michael sagt „The first record!“ und statt einem kollektiven Fremdschäm-Moment fängt Jarvis die Situation höflich auf, in dem er sagt „Are you frightened of the first Pulp record? Sometimes the first thing you do is not your best. But you gotta just keep doing it!”

Ein Song für die Mächtigen

Weitermachen, Neues ausprobieren, auch ein Teil der Evolutionstheorie von Jarvis Cocker. Jene ungeduldigen Fans, die auch manchmal das Ende einer Serie einfach googeln, haben vielleicht vor dem Konzert einen Blick auf setlist.fm geworfen und gesehen, dass alle Konzerte der Jarvis Cocker presents Jarv Is-Tour mit dem zeitlosen, großartigen Song „Running The World“ aufgehört haben.

Fotos vom OFF Festival

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Während die Band die ersten Takte anstimmt und Jarvis die Bandmitglieder vorstellt, widmet Jarvis den Song allen, die die Welt regieren. Auf Reisen treffe die Band immer die nettesten Leute, die aber leider nicht an der Macht sind. Er möchte nicht über die aktuelle politische Lage in Großbritannien reden, er ist froh an einem Abend davon weg zu sein.

Und so hinterlässt Jarvis sein Publikum mit einer 13 Jahre alten aber immer noch ultimativen Hymne über den Frust beim täglichen Blick auf die Titelblätter und Tweets der Zeitungen und Medienhäuser. Der Song endet nämlich so:

“And if you don’t like it then leave
Or use your right to protest on the street
Yeah, use your right
but don’t imagine that it’s heard
Not whilst cunts are still running the world!”

Ein Ohrwurm. Danke Jarvis. Danke OFF Festival. Die Konzert-Batterien sind für ein Jahr gut aufgeladen!

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