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Stau auf der Autobahn, rote und weiße Lichter

APA / Georg Hochmuth

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Der lange Weg durch Europa

32 Mal hat Kemal mit seiner Großfamilie Europa schon durchquert, von Hamburg nach Serinhisar. Sein Vater ist 1987 aus der Türkei geflohen, weil er Mitglied der kommunistischen Partei war. „In Deutschland fragt dich niemand, was du für eine Gesinnung hast.“

Eine Kolumne von Todor Ovtcharov

Kemal ist wie jeden Sommer mit seiner Großfamilie auf dem Weg von Hamburg zur Geburtsstadt seines Vaters Serinhisar in der türkischen Provinz Denizli. An der Tankstelle machen Kemal und seine Verwandten ein Picknick. Sie haben alles: Brot, Fleisch, Süßes und Wassermelone, die in kleine Stücke geschnitten ist. Kinder rennen herum und Erwachsene rennen ihnen nach. Die Kinder schreien auf Deutsch, die Erwachsenen auf Türkisch ihnen nach.

Kemals Familie reist in einem Riesen-BMW und einem Riesen-Mercedes. Die Autos sind so vollbepackt, dass man sich fragt, wo es Platz für die Menschen gibt. Wir bleiben neben seinem Karavan stehen. Kemal schaut unseren kleinen Renault mit Verachtung an, der neben seinen Autos etwa so aussieht wie ein Fischerboot neben zwei Kreuzfahrtschiffen. Er schaut auf unser bulgarisches Nummernschild und sagt zu mir, dass er seit 1987 32 Mal durch Bulgarien gefahren sei.

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„Warum seit 1987?“, frage ich ihn. Weil genau damals sein Vater mit 16 Jahren aus der Türkei nach Deutschland floh. Der Grund dafür war die Umbennenung seiner Stadt. Bis dahin hieß sie Kizilhisar („die rote Burg“) wurde aber in Serinhisar („die kühle Burg“) umbenannt, um nicht mit der kommunistischen Bewegung in Verbindung gesetzt zu werden. Da sein Vater ein Mitglied der komunistischen Partei war, floh er. Ich frage ihn, wie sein Vater seine kommunistische Gesinnung mit dem Leben in der BRD in Einklang bringen konnte. Kemal lächelt mich an: „In Deutschland fragt dich niemand, was du für eine Gesinnung hast. Außerdem hält nichts ewig. Besonders Gesinnungen.“

Dann erzählt er mir davon, wie sein Vater nachts in Hamburg auf das Dach eines Gebäudes kletterte. Er wollte mit weißer Farbe groß „Lang lebe die türkische kommunistische Partei!“ schreiben, damit es alle sehen konnten. Als er am Dach war, fing es zu regnen an und es wurde sehr rutschig. Kemals Vater war im Zweifel, ob er seinen Plan ausführen oder fliehen soll. Genau in dem Moment, als er sich vorstellte, wie er aufgeplatzt am Gehsteig liegt, sah er eine Feuerwehrleiter. Ein Nachbar hatte ihn am Dach gesehen und die Feuerwehr gerufen. Die Feuerwehrleute dachten, er wolle sich das Leben nehmen, und brachten ihn in die Psychiatrie. Seitdem sprach er nie mehr über die kommunistiche Partei. Kemal zeigt mir seinen Vater, der am Rücksitz des BMW schläft.

„Und seitdem haben wir Europa 32 Mal durchquert - von Hamburg bis Serinhisar. Ich kenne jede Straße und jeden Straßenpolizisten!“ Kemal lacht. „Weißt du, was die Polizisten in Bulgarien zu mir sagen? Gib mir Corba Para (Suppengeld), efendi. Suppe habe ich genug, warum soll ich nicht noch ein paar hungrige Polizisten füttern?! Mein Vater ist schließlich ein ehemaliger Kommunist!“

Wir fahren los und Kemal winkt uns zu. Er ist bereit, Europa zum 33. Mal zu durchqueren.

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