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Das Boca-Stadion in Buenos Aires

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Blumenaus Fußball-Journal

Der große und der schöne Fußball

Heute startet der große Fußball in seine Saison: England, Deutschland. Der schöne Fußball aber findet anderswo statt.

Von Martin Blumenau

Englands Premier League geht heute Abend los, mit Liverpool gegen Aufsteiger Norwich. Frankreich beginnt auch heute, mit Monaco gegen Lyon. In Deutschland startet heute der detailreich inszenierte DFB-Cup mit drei Matches. Spanien zieht nächste Woche nach.

Es geht also wieder so richtig los mit dem wirklich großen Fußball: volle Stadien, Fan-Choräle auf den Rängen und auf dem Platz Physis, Psyche und Taktik von allerhöchstem Niveau, perfekt durchinszeniert für die Übertragungen ins globale Dorf.

In der Sommerpause hat man sich mit Pseudo-Turnieren wie dem International Champions Cup beholfen, der die großen europäischen Vereine aus den großen Ligen in die USA und nach Asien bringt, um dort die Marketing/Merchandising-Aktivitäten zu setzen und die mittlerweile weltumspannenden Marken, die Real oder Juventus oder Bayern oder Manchester United eben sind, auch entsprechend zu monetarisieren.

Meine Lieblingsszene aus diesen mühselig in die komplexen Vorbereitungspläne der Mannschaften eingepassten, inhaltlich bedeutungslosen Begegnungen war ein Münzwurf, der von einem strahlenden asiatischen Geschäftsmann mittels Card vorgenommen wurde - die bestmögliche Symbolik überhaupt.

Zielgruppe in den Stadien ist der erlebnisorientierte Fan, der sich einen rundum sauberen Ausflug in die feine Welt des Spitzenfußballs gönnt, ein strukturiertes Abenteuer, mit dem sich im Büro angeben lässt, programmierter Distinktionsgewinn für die obere Mittelklasse.

Diese von den großen Ligen und Vereinen geförderte Entwicklung schlägt sich auch stimmungstechnisch nieder: Event-Fans sind nicht wie Fans der jeweiligen Mannschaft an Nachhaltigkeit oder Durchgängigkeit interessiert, sie zelebrieren in einer Art 90-Minuten-Selfie den Moment. In den besten Momenten (Stichwort Liverpool) reicht das immer noch zu magischen Nächten - in der Mehrzahl des Liga-Betriebes färbt die klinische, glattpolierte Fassade der Stadien und der immer mehr dienstleistungsorientierte Stil der Fans aber auf die Stimmung ab. Und dann sieht selbst wirklich guter Fußball weniger schön, weniger interessant aus.

Seit einiger Zeit habe ich einen krassen Gegensatz dazu gefunden, einen Blick in eine ganz andere, hierzulande eher unbekannte Fußball-Welt. Es ist eine Welt voller abgeranzter Betonschüsseln, in denen sich aber immer wieder erstaunliche Mengen von Nicht-Event-Fans einfinden, die auch ganz deutlich nicht der Mittelschicht angehören.

Es ist die Welt der südamerikanischen Copa Libertadores oder Copa Sudamericana, es sind abgefuckte Stadien wie das Olla Azulgrana oder das Monumental in Buenos Aires, das Parque Central, das Malvinas Argentinas, das Nuevo Gasómetro oder selbst das renoviert Maracaná, und natürlich La Bombonera. Es sind die Heimstätten der großen Teams aus Argentinien, Brasilien oder Uruguay, in denen die Klassentreffen der kontinentalen Club-Meisterschaften ausgetragen werden. Und es sind elegische, epische Gefechte, die von leicht entflammbaren Massen getragen werden, die sich sichtbar nicht das jeweils neueste, sondern irgendein Trikot ihres Teams übergezogen haben.

Gut, es hat viel mit der immer prekären Wirtschaftslage zu tun, aber es sind eben in erster Linie die Menschen der unteren Mittelschicht und der Unterschicht, die sich diese Spiele geben und sie damit besser machen, als sie sind, die ihnen den Geruch des schönen Fußballs geben.

Es mag mit meiner Affinität zu tun haben. Ich bin ein Blumenau, mit Stadt und Verein, mit Nähe zu Peles Santos und dem FC Sao Paolo, der Anfang der 90er der beste Klub der Welt war. Ich habe eine argentinische Schwägerin, unsere Kinder spielen im Garten mit Boca- und River-Bällen.
Es mag damit zu tun haben, dass ich diese Spiele spätnachts sehe und dazu keine Kommentare, sondern nur die Stadion-Atmo höre. Das lädt zum Reinkippen ein.

Denn, rein objektiv, sind sie eine Klasse hinter den europäischen Powerhouses: Boca und River, Gremio und Internacional, Cerro Porteno und Nacional, Palmeiras und Flamengo. Ihre jeweils Besten geben sie Halbjahr für Halbjahr nach Europa ab - es sind Ausbildungsligen geworden, Zulieferer für den globalen TV-Unterhaltungsmarkt.

Und so sind es die einst in Europa erfolgreichen, jetzt in ein gewisses Alter gekommenen Stars, die bei den südamerikanischen Groß-Klubs den Ton angeben. Andrés D’Alessandro und Paolo Guerrero sind jetzt die Chefs bei Internacional in Porto Alegre, Luiz Felipe Scolari trainiert unter anderen Felipe Melo bei Palmeiras in São Paulo. Pedro Geromel (Ex-Köln) ist bei Grêmio Porto Alegre, Javier Pinola (Ex-Nürnberg) ist bei River Plate in Buenos Aires, Álvaro Pereira und Gonzalo Bergessio bei Nacional in Montevideo, Roque Santa Cruz bei Olimpia und Nelson Valdez bei Cerro Porteño, beide aus Paraguays Hauptstadt Asunción. Fred ist bei Cruzeiro aus Belo Horizonte, der Ex-Bremer Diego und, ganz neu, Filipe Luis (von Real) spielen bei Flamengo Rio de Janeiro, der große Dani Alves ist gerade frisch beim FC Sao Paulo (wo schon andere Altstars warten) eingetroffen, und Mauro Zarate und Carlos Tevez sind bei den Boca Juniors in der argentinischen Hauptstadt.

Apropos Boca. Dort, beim jüngsten Spiel, als die Hausherren den Sudamericana-Titelträger aus Parana aus dem Bewerb kickten, gab es einen Gast in einer der Boxen auf der Bonbonschachtel-Seite, der La Bombonera ihren Namen gibt: Daniele de Rossi. De Rossi, Italiener, einer der unangenehmsten Defensiv-Spieler der letzten Jahre, schließt seine Karriere nämlich nicht in China oder am Golf ab, wo viel Geld und wenig Anstrengung locken, sondern dort, wo es eher Emotionen abzucashen gibt: bei Boca, mitten im italienischen Arbeiterklasse-Viertel in Buenos Aires.

De Rossi war sein ganzes Leben lang ausschließlich beim AS Roma, ist nie gewechselt, und jetzt das. Vielleicht ist er ja nur ein hoffnungsloser Romantiker. Vielleicht will er aber auf seine alten Tage noch einmal schönen Fußball erleben.

Zuletzt in Blumenaus Fußball-Journal: Die sportliche Analyse der neuen Liga-Saison - Teil 1 und Teil 2. Außerdem zu Saisonbeginn: ein Text zum wurschtigen Soft Start der Bundesliga. Und zur ersten Cup-Runde: Viktoria oder: Die andere Seite des Fußballs, zu Wr. Viktoria gegen Hartberg.

Außerdem: Warum viele den politisch Vernetzten Fußball hassen, am Beispiel Linz. Und: Germanys Next Bundesliga-Coach - die heimische Liga als Versuchs-Labor sowie eine Analyse der geschlossenen Gesellschaften im Fußball Closed Shop – am Beispiel Liga & Europacup. Und eine Analyse der Position der Chef-Coaches & die Bilanz der letzten Saison.

Nachbetrachtung zum Mazedonien-Ausflug des ÖFB-Teams sowie Preview und Nachlese zum Slowenien-Länderspiel.

Alles zur systematischen Analyse-Verweigerung nach der U21-EM. Nachträgliche Relativierung, die Nachlese zur Dänemark-Niederlage der U21: und die Analyse des Sieges über Serbien. Davor Texte über den letzten Test vor Beginn der ersten U21-Euro, an der der ÖFB teilnehmen darf. Und eine Nachlese zum Finale.

Zur Copa America: alles zum Halbfinale Brasilien - Argentinien, eine erste Bilanz und eine Preview.

Zum Afrika-Cup: Afrika, Next Gen und eine Analyse der Hahnenkämpfe um die globalen Fußball-Rechte anlässlich des Afrika-Cups.

Zur Frauen-WM: Bilanz und Ausblick, alles zum Halbfinale, zwei deutsche Niederlagen im Vergleich, vorweggenommene Finalspiele zum Viertelfinale Frankreich - USA sowie Frauen-Fußball wird wie Männer-Fußball und das ist nicht nur gut so. Davor: Zur Untrennbarkeit von Fußball und Politik. Und das war die Vorrunden-Bilanz der Frauen-WM, nach einem ersten Blick und einem zweiten auf Deutschland vs Spanien.


Das sind die Vorgängertexte, egal ob als #dailyblumenau auf der neuen oder der alten Website, oder im langjährigen Journal. Regelmäßiges zu diesen Themenfeldern abseits des Fußballs folgt im Herbst.

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