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Sziget Festival 2019: My love she keeps me warm

Von „Same Love“ zu „Amore“, von Anti-Nationalismen zu The National: Das Sziget Festival ist ein 500.000-Menschen-Utopia inmitten von Budapest, und zu den Einwohner*innen zählen James Blake, Macklemore, Wanda, The National, Mura Masa, Son Lux und viele mehr.

Von Katharina Seidler

Das Sziget Festival hat angeblich um die 60 Bühnen. Persönliche Überprüfung, außer vielleicht im Programmheft zu zählen, ist beinahe unmöglich, die schiere Größe dieses Events ist als Einzelperson nicht zu erfassen. Ob Theater oder Performance, Kunstinstallation, Zauberwald, Vergnügungspark, Ökologie-Workshop, Akro-Yoga oder eben: Musik Musik Musik – und auch hier: Techno, Rap, Rock, Pop, ungarische Folklore, finnische Geheimtipps – das Angebot an Sachen zum Machen ist so immens, dass man versucht ist, zu kapitulieren und sich gleich nur zwischen den Bühnen Main Stage, A38 und Europe im Dreieck zu bewegen. Auch von hier wird man genug zu berichten haben. Jeder und jede Besucher*in erlebt am Sziget ein anderes Festival.

Sziget Festival 2019 Publikums Impressionen

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Auch dauert dieser Wahnsinn ja sieben Tage. Den Eröffnungs-Main-Act machte Ed Sheeran, den Rausschmeißer am Dienstag geben die Foo Fighters, und in etwa zwischen diesen Giganten kann man die Diversität des Lineups aufspannen. Wenig überraschend ist auch das Publikum dementsprechend international durchgemischt. Ein Paar aus Belgien ist mit dem Auto 1.400 Kilometer angereist – „of course we stay for the whole festival after such a drive“ – und eine Gruppe Südkoreanerinnen, auf ihrer Europareise eher zufällig hier gelandet, ist erst einmal milde fassungslos. Britische Freundesgruppen, ungarische Musikfans, ein Zelt voll Österreicher*Innen mit „Amore“-Taschen – Wanda spielen hier auch.

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Ü b e r a l l passiert etwas.

Die Headliner hier heißen also Florence & The Machine, The National oder Chvrches. Am Freitag leider lautet der größte Name auf dem Lineup Martin Garrix, und er spielt selbst bei versuchtem Wohlwollen den seelenlosestes Schablonenpop mit Club-Beat, den man sich vorstellen kann, Feuerwerke und Knicklicht-Meer hin oder her. Überhaupt ist der Freitag als einziger Tag eine fast durchgehende musikalische Enttäuschung, auch in den austauschbaren, sexy Popsongs von Tove Lo außer „Habits“ und selbst beim ausgeklügelten Art-Pop von Yeasayer, dessen doch eher verschrobene Hooklines beim Sziget einfach keinen rechten Live-Drive entwickeln wollen.

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In einer perfekten Welt wäre Mura Masa jedenfalls der größere Superstar als Martin Garrix, aber glücklicherweise stehen die Zeichen gut, dass der 23-jährige Brite in den nächsten Jahren sowieso zu Weltruhm aufsteigt. Man versammelt schließlich nicht ohne Grund auf seinem Debütalbum Damon Albarn, Cristine & The Queens, A$AP Rocky, Desiigner und Charli XCX. Alex Crossan aka Mura Masa ist ein klassischer Digital Native, er kennt sich mit Südlondoner Punk ebenso aus wie mit karibischem Calypso, Clubmusik oder Hip Hop, er bewegt sich frei zwischen den Stilen und geht respektvoll und ohne Appropriation mit ihrem Erbe um.

Als Kurator und atemberaubender Produzent steht er in der Mitte seines selbstbetitelten Albumserstlings aus 2017, schüttelt House-Piano-Hooklines und raffinierte Trap-Beats aus dem Ärmel, eine funky, tropische Popmusik burstin with fruit flavour. Hier die soulige Stimme von Jamie Lidell, dort eine Steeldrum, programmiert im Stile Jamie XX’, drüben ein Beat, den Skrillex mitproduziert hat: geht sich alles aus bei Mura Masa. „Playfullness is key“.

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Die atemberaubende Fliss

In der Liveshow nun steht Alex Crossan, gesundheitlich leicht angeschlagen, schüchtern lächelnd mit seinen gelben Schuhen im Hintergrund und bearbeitet Schlagzeug und Musikmaschinen. Die Bühne überlässt er dem eigentlichen Star der Show, der Londoner Vokalistin Fliss, der Crossan im Interview nicht genug Rosen streuen kann. Sie singt, rappt, tanzt, wirbelt herum und schlüpft mühelos in sämtliche Vokalist*innen-Schuhe von A$AP bis Charli XCX. Wassermaschinen, die aussehen wie Schneekanonen, sprühen in der erbarmungslosen Nachmittagssonne Sprühnebel über das tanzenden Sziget-Publikum.

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Macklemore

Die universelle Liebe auf der Mainstage geht weiter, als um 19.00 Uhr Macklemore die Szene betritt. Längst hat der Amerikaner vorurteilsbehaftete Kritiker*innen Lügen gestraft, die ihn für einen oberflächlich kommerziell interessierten Whiteboy-Rapper hielten. Überhaupt zeigt das Sziget Festival mit seinem bunten Lineup, in dem etwa auch Techno-Heldinnen wie Courtesy oder Avalon Emerson zu finden sind, sehr schön die verschwimmenden Grenzen von wie auch immer definiertem „Underground“ und „Mainstream“ auf, zwei Kategorien, über die etwa auch Mura Masa nur lachen kann.

“If it’s good, it’s good“ – und Macklemore ist definitiv good, und außerdem nützt er, wie auch letztes Jahr beim FM4 Frequency Festival und möglicherweise auch in wenigen Tagen beim, äh, FM4 Frequency Festival, seine weithin gehörte Stimme für politische Botschaften. Kinder werden an Grenzen von ihren Eltern getrennt, die Grausamkeit mancher Menschen hingegen kennt keine Grenzen. “Who are we to say: You belong here, and you don’t?“, fragt Macklemore, bevor er seinen Ehe-für-alle-Hit „Same Love“ anstimmt, ein allein auf Youtube über 200 Millionen Mal beachtetes Manifest gegen Homophobie: Damn right I support it. So viel Haltung würde man sich von mehr Popstars wünschen.

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Das Verhandeln neuer Männlichkeitskonzepte und aufgeklärter Welthaltungen findet auch auf den anderen Sziget-Bühnen statt. Die österreichischen Electronica-Popper Hearts Hearts haben dieses Jahr den per Publikumsvoting vergebenen Sziget-Sundowner-Wettbewerb gewonnen und stehen wie gewohnt in feinster Seide angetan, gemäß ihrer sehr lobenswerten „No-shorts“-Bandpolicy, in der prallen Sonnenuntergangssonne auf der Europe Stage (vielleicht wäre ein After-Sundowner-Slot günstiger). Im Gepäck haben sie bereits das Wissen um die kommende Song-Großtat „Ikarus (I feel a change)“, ein Aufbruch der Band zu neuen, luftigeren Soundufern, mit gleichzeitig politischem Inhalt, der Versuch eines Hoffnungsschimmers in weltpolitisch düsteren Zeiten. Hearts-Hearts-Sänger David Österle entwirft im Interview den Traum von einem Europa ohne Nationalismen, das nicht nur auf sich selbst schaut, sondern das den Blick nach außen nicht verliert. Er betont, wie wichtig es sei, dass ein so offenes, multinationales, tolerantes Festival wie das Sziget ausgerechnet im heutigen Ungarn stattfindet: „Ich frage mich, wie die ungarische Regierung mit dieser temporären Utopie, die hier geschaffen wird, umgeht.“

Brüche in den althergebrachten oder selbst auferlegten Rollenklischees von Männlichkeit machen auch Wanda in ihrer Kunst erfahrbar. Zweifellos oft missverstanden, steckt ja eindeutig hinter der Fassade des lederjacketragenden, babybeschwörenden Mannes ein Existenzialist auf Sinnsuche. Marco Wanda reckt also die Faust, wie etwa auch The Killers’ Brandon Flowers oder der frühe Alex Cameron es tun, deren Bühnen-Charaktere sich ebenso an der Diskrepanz zwischen Erwartungshaltung und Unzulänglichkeitspanik reiben. „Mein Baby weiß so viel von mir, und ich weiß grad genug von ihr, um zu verstehen, dass das nix wird. Am schönsten wär ein schneller Tod.“ Ein technisches Problem führt nach mehreren abgebrochenen Songversuchen zum rock’n’rolligsten Moment des Abends, wenn Marco Wanda seine Gitarre krachend von der Bühne wirft. Das anschließende Bad in der Menge gibt ihm die Kraft zurück.

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Von Anti-Nationalismen zu The National, von Budapest nach Cincinnati

Apropos Bad in der Menge, auch The National sind beim Sziget zu Gast. Neben all dem Schmerz, der dazugehörigen Erlösung und der wirklich unendlichen Liebe, die diese Band in elegantem Schwarz-Weiß über die Riesenleinwände verbreitet, darf man nie vergessen, dass Superstimme Matt Berninger auch ziemlich viel Humor hat. Er stürzt sich alle halben Lieder ins Publikum, verteilt Drumsticks, robbt auf dem Bauch über die Bühne, spricht mit einer das Gelände überfliegenden Drohne, zieht sich den Blumenkranz einer Besucherin übers Bein und singt dabei jeden Ton richtig. Manchmal zieht er auf seinen Spaziergängen so weite Kreise, dass in der Menge kleine Völkerwanderungen entstehen.

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Zu Shows von Künstler*innen, die wie Berninger oder etwa Nick Cave so engen Kontakt zu den Menschen in den ersten Reihen pflegen, sei an dieser Stelle das Folgende gesagt. Es ist unerträglich, mit welcher Unverschämtheit Handys und deren Lichter zu Hunderten und Tausenden in Künstlergesichter geschoben werden. Der fragilste, persönlichste Moment, in dem ein Lebens-Idol einem die intimsten Wahrheiten direkt ins Ohr flüstert, während er einen an der Hand hält, wird zerstört, wenn man selbst diesen Anblick nur durch eine Kameralinse hindurch betrachtet. Auf die Gefahr hin, wie die uralte Morla und der uncoolste Mensch der Welt zu klingen: Fuck Social Media.

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Es ist alles schon viel zu lang, der Text und der Tag, aber um Mitternacht kommt James Blake und ohne ihn geht es natürlich nicht. Auch ihm wäre selbst mit dem gewolltesten Zynismus nicht beizukommen, er ist einer der besten Liveacts, die man sich derzeit überhaupt ansehen kann. Bei aller Empfindsamkeit, die den fragilen Popsongs von James Blake innewohnt, darf man nicht vergessen, dass derselbe Mann früher oft und derzeit vereinzelt markerschütternde Dancefloor-EPs, etwa auf dem renommierten Techno- und Dubstep-Label R&S, veröffentlicht.

James Blake live am 7.11.2019 im Gasometer Wien

Auch die neuen James-Blake-Nummern haben ihre Wurzeln noch tief im Club, und besonders live kehrt er ihre Bassgewalt, von „Limit to your love“ bis „Where’s the catch“ besonders hervor. Freundlicherweise hat sich James Blake ein zweifarbiges Leopardenhemd angezogen, das uns wie eine Sonnenbrille davor bewahrt, im Angesicht von so viel Perfektion dem Wahnsinn anheim zu fallen. Die Publikumskamera fängt bei diesem Konzert fast ausschließlich Menschen ein, die nicht bemerken, dass sie gerade in 2x10 Metern Größe auf der Leinwand zu sehen sind, so selbstvergessen und introspektiv kann man das Konzert von James Blake und seinen zwei Bandkollegen an Schlagzeug, Gitarre und Modularsynth, erfahren. Sein Lächeln bei den abschließenden Dankesworten zerreißt einem fast das Herz. Darum, und zwar genau darum, geht es.

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