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Ein ungleiches Paar auf Rachefeldzug: „Hippocampus“ von Gertraud Klemm

Gertraud Klemm ist für ihre teils wütende Sprache in Romanen wie „Muttergehäuse“ und „Aberland“ mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet worden. Ihr neuester Roman „Hippocampus“ schickt eine 1968er-Feministin und vergessene Aktionistin mit einem digital Native zusammen auf einen Roadtrip.

Von Anna Katharina Laggner

Helene, die vergessene Autorin eines Bestsellers von 1977, ist tot. Ihre Freundin, ehemalige Frauen-WG-Mitbewohnerin und Mitstreiterin Elvira soll sich nicht nur um den Nachlass, das Chaos und den Dreck im Haus der Verstorbenen kümmern, sondern auch um das Medieninteresse an einem Roman, der nun posthum erscheint und auf der Longlist zum deutschen Buchpreis steht (als erster Roman einer Verstorbenen).

Buchcover "Hippocampus" von Gertraud Klemm

kremayr scheriau

„Hippocamus“ von Gertraud Klemm ist im Verlag kremayr scheriau erschienen.

Doch nur kurz rekapituliert sie die Existenz ihrer Freundin, einer Autorin, die, wie Elvira wutschnaubend lesen muss, „zum Kanon der späten feministischen Avantgarde“ gehört hat, die aber vor allem am zu frühen Erfolgs zur falschen Zeit gescheitert ist, heiratete und Kinder bekam. Die Ungerechtigkeit dieser Existenz, das ungelebte Leben und die nicht geschaffene Kunst wird Elvira – äußerlich zwar gealtert, aber innen drin lodert das Feuer des feministischen Aktionismus – rächen. Dafür krallt sie sich den jungen Adrian.

Grundsätzlich ist Adrian Kameraassistent und steht auf eine Frau, die ihn andauernd enttäuscht. Aber er braucht das Geld. Mit Elvira, der „alten Hexe“ ist er fortan in einem Bus unterwegs und assistiert bei Aktionen, deren Sinn sich ihm nicht gänzlich erschließt. Er hilft etwa dabei, einem Jesus am Kreuz ein gehäkeltes Jackerl anzuziehen oder eine riesige selbst gebastelte Vulva auf einem Kriegerdenkmal zu befestigen. Er filmt und postet, das kann er am besten. Das lenkt ihn auch davon ab, dass ihm Elvira und ihre kriminelle Energie nicht ganz geheuer sind.

Aufeinandertreffen von Gegensätzen

In „Hippocampus“ trifft die Kultur des Anpackens der Nachkriegsjahrzehnte auf die Lethargie einer Jugend, die alles online sieht und wegwischt. Aber das allein wäre zu plump. Hier treffen Vorurteile aufeinander und werden entkräftet, hier treffen zwei Menschen aufeinander, die zunächst widerwillig, dann aber mit steigender Neugierde auf wenigen Quadratmetern zusammen sind (er auf den Vordersitzen, sie im hinteren Busteil), leben und arbeiten. Hier wird, nicht zuletzt, ein Frauenleben nacherzählt, in dem sich eine Karriere erst nach dem Tod ausgeht, weil es vorher durch den Fleischwolf katholischer Doppelmoral und eines machoiden Kulturbetriebes getrieben wurde.

Nicht von ungefähr findet sich in der Liste, in der die Autorin für hilfreiche Hinweise in der Recherche dankt, auch Renate Bertlmann. Bertlmann macht seit fünf Jahrzehnten feministische Kunst. Seit wenigen Jahren wird die Relevanz dieser Kunst vom Markt, der die 70-Jährige nun zum Shooting Star gemacht hat, entdeckt. Wie viele der in den 1960er und 70er Jahren tätigen Künstlerinnen, der Aktionistinnen, der angehenden Schriftstellerinnen haben nicht durchgehalten, nicht durchhalten können? Davon können Künstlerinnen wie Bertlmann berichten.

„Erst wurde die Liebe aus ihr herausgemolken, dann wurde ihr Selbstbewusstsein abgetragen, Schicht um Schicht. Als die Kinder erwachsen waren, war die Schriftstellerin in ihr schon verschlissen. Wie sagt man? Sie hat ihre Karriere freiwillig geopfert", schreibt Klemm in „Hippocampus“.

Wut als treibende Kraft

Die Wut über das erlittene Unrecht ist der Motor, der Elvira antreibt. Die Klarheit und Radikalität dieser Wut sind auch die wesentlichen Merkmale der Sprache in „Hippocampus“ – betitelt nach dem Seepferdchen, mit dem Elvira ihre Aktionen unterzeichnet, genauso wie jenem seepferdchenförmigen Gehirnlappen, der für das Gedächtnis zuständig ist.

Autorin Gertraud Klemm

Dolores David

Anders als im mehrdeutig lesbaren Titel wird im Roman selbst Klartext geredet und ein verwurstetes Frauenleben gerächt. Da muss auch Adrian dran glauben, den die Frauen sprichwörtlich und buchstäblich mit ausgebeulter Hose im Regen stehen lassen (bis es zum großen erotischen Showdown kommt).

Mit Rache heißt es, schade man nicht nur den anderen, sondern auch sich selbst. Doch in „Hippocampus“ greift diese Trivialmoral nicht, denn Gertraut Klemm beschreibt das erlittene Unrecht als systemisch. Und wer zurecht wütend ist, darf unbeschadet draufhauen.

Autorin Gertraud Klemm im Interview

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