FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Deerhunter live in Graz August 2019 Dom im Berg

Jakob Issenstein

fm4 im sumpf

Bradford Cox kauft sich eine Schere und geht mit mir Kuchen essen

„Why hasn’t everything already disappeared?“ hieß das letzte Album von Bradford Cox’ existenzialistischer Art-Indie-Pop-Unternehmung Deerhunter, erschienen Anfang 2019. Anlässlich der Sommerserie von FM4 Im Sumpf über musikalische Langzeit-Held*innen horchen wir nochmals ein ausgiebiges Interview mit ihm an.

Von Katharina Seidler

Bradford Cox von Deerhunter in einem Scheren- und Messergeschäft in Graz

Katharina Seidler

Bradford Cox im Grazer Scherengeschäft

Musik kann sein wie Wein: je älter, desto besser. Musik kann sein wie Bier: je frischer, desto besser. FM4 Im Sumpf widmet sich diesen Sommer klanglichen Langzeitbeziehungen. Teils war es Liebe auf den ersten Blick, teils wuchs da etwas langsam heran, manchmal gab es da und dort auch Krisen - und dann wieder eine unerwartete neue Zuneigung für Künstler*innen, die man schon fast abgeschrieben hatte.

Der Bogen reicht von Sharon van Etten bis David Byrne, von Attwenger bis Laurie Anderson, von Burial bis Die Heiterkeit und noch ganz woanders hin. Jeden Sonntag im Sommer 2022, ab 21 Uhr auf FM4 und danach 7 Tage im Player.

Am 7. August 2022 ab 21 Uhr widmen wir die vollen zwei Sumpfstunden dem umfassenden Werk des traurigen Genies Bradford Cox und horchen noch einmal Auszüge aus dem Interview von 2019 an.

(August 2019)

Was sollen wir glauben, oder auch: woran? Will Donald Trump wirklich Grönland kaufen, sind „wir Österreicher einfach nicht so“, gibt es einen Gott, der über uns wacht? Wer hat das schmelzende Eis an den Polkappen mit eigenen Augen gesehen und wer unsere Toten, die wir vermissen und die uns angeblich begleiten und in manchen Momenten zur Seite stehen? „Create your spirits. Will them alive“, schreibt Nick Cave; „Der Glaube ist das Wichtigste, was ich habe“, sagt auch Bradford Cox, gekauert in eine Fensternische in einem Grazer Café, vor sich eine Kanne des stärksten Schwarztees der Welt um fast 30 Euro. „Ich bin religiös, weil ich glauben will, und Glaube heißt für mich, keine Fragen zu stellen.“

Cox sagt dies mit seiner kaum fassbaren Mischung aus überschäumender, ansteckender, bezaubernder, unmittelbarster Liebheit und doch ständig präsenter, existenzieller Verzweiflung. Er zitiert die Bibel im selben Atemzug wie Wittgenstein, Thomas Mann oder Whitney Houston, er kauft in einem Scherengeschäft zwei bunte Kinderscheren und nachher so viele Platten (aktuelles Faible balinesischer Gamelan), dass die Sackerl fast reißen. Er glaubt an das Konzept Vier Kuchen gegen Heimweh: „I’m looking for a taste from home.“ Er ist umwerfend und beinahe wie ein stand-up comedian lustig und schießt dann sofort einen Satz nach wie: „Wenn ich etwas hasse, dann ist das die Hippiekultur. Sie irrt darin, dass wir alle gemeinsam im selben Boot sitzen. Jeder ist für sich alleine, für immer. Das Alleinesein ist eigentlich mein safe space.“ Er meint es aber traurig.

Deerhunter live in Graz August 2019 Dom im Berg

Jakob Issenstein

So also wirbeln einem an einem Dienstagabend in Graz Ende August, dem einzigen Österreich-Stopp bei der aktuellen Tour zum Album „Why hasn’t everything already disappeared?“ über 15 Jahre Musik durch den Kopf, erdacht von einem der größten Songschreiber der Gegenwart, dazu eine durch ihn vermittelte Kulturgeschichte quer durch die Jahrhunderte – „alles bis auf das Zeitalter der Technologie, Trost findet man nur davor“ (Bradford Cox) – acht Deerhunter-Alben voll formenwandlerischer Popmusik aus Sternenstaub und substanzieller Schwere zu gleichen Teilen. Warum nicht alles schon längst verschwunden ist?

Comfort me you cover me
Comfort me, comfort me
Cover me cover me
Comfort me, comfort me
(„Agoraphobia“)

Deerhunter live in Graz August 2019 Dom im Berg

Jakob Issenstein

Wenn Bradford Cox sagt, dass er das Konzept der Nostalgie abstoßend findet, dann ist es, weil er in seiner Vergangenheit keine einzige Erinnerung hat, in der eine Hoffnung nicht durch eine Riesenenttäuschung zerstört wurde. Dennoch gibt er nicht auf, sucht nach Zerstreuung und Trost – „die Musik gibt mir das, aber nur dadurch, dass mich die Arbeit ablenkt“ – und schenkt sein Herz jedem vorbeigehenden Hündchen auf der Straße. Sein eigener Hund Faulkner, derzeit gerade bei Schwester und Vater in Obhut, springt in einem Handyvideo über einen Steg aus Fußmatten und Teppichen durchs Wohnzimmer: „Das Geräusch seiner eigenen Pfoten auf dem Parkettboden erträgt er nicht.“

Tatsächlich hat mich Bradford Cox nach dieser Begegnung noch tagelang beschäftigt, sein wirres Flattern von Antwortblume zu Stream-of-consciousness-Blüten, seine plötzlichen Zwischenfragen – „Wie stehst du eigentlich dazu, Insekten zu töten?“ – und seine immer wieder durchblitzende Traurigkeit. Es ist ein einziges großes Glück, dass es die Band Deerhunter gibt, denn selbst, wenn man sonst schon an nichts glauben mag, kann man sich von der Kunst doch ein ums andere Mal das Leben retten lassen.

Deerhunter live in Graz August 2019 Dom im Berg

Jakob Issenstein

Danke an Jakob Issenstein für die schönen Fotos!

Die FM4 Im Sumpf Sommerserie 2022

Heroes, not just for one day - Musiker*innen in Langzeitbeziehungen mit dem Sumpf. Jeden Sonntag im Sommer 2022, ab 21 Uhr auf FM4 und für 7 Tage im Player. [Playlist]

mehr Musik:

Aktuell: