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Brexit Demo

APA/AFP/DANIEL SORABJI

ROBERT ROTIFER

Schlaflos in Brexitannien

Das Gefühl der Geiselhaft und Stimmlosigkeit, wenn das Land, dem du dein Leben anvertraut hast, in eine gefährlich autoritäre Richtung driftet.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Es war so um vier in der Früh, die klassische Zeit, da musste ich’s mir wieder eingestehen. Wie oft schon hatte ich mir erfolgreich eingeredet, dass ich jetzt aber wirklich drüber hinweg bin?

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Aber die Realität ist nicht zu verleugnen: Wer um vier Uhr in der Früh schlaflos „The Emigrants“ von W.G. Sebald fertig liest und sich zwischendurch damit ablenkt, eine Geschichte im Guardian über die immer noch ungeklärten Rechte für in Großbritannien lebende EU- Bürger*innen zu tweeten, der ist über gar nichts hinweg.

Ich hatte hier schon im Jänner über den sogenannten Settled Status gebloggt, der dem Vernehmen nach auch im Fall eines No Deal-Brexit mein Recht auf Aufenthalt und Gesundheitsversorgung garantieren sollte (andere Dinge allerdings nicht – klären wir ein andermal...), aber unter den Einwander*innen aus der EU macht mich das zum Teil einer glücklichen Minderheit.

Erst eine runde Million von geschätzten 3,8 Millionen EU-Bürger*innen haben bisher diesen Status erlangt, und ich für meinen Teil kenne eine sehbehinderte Frau jenseits der 70 oben in Lincolnshire, die seit den 1950ern mit österreichischem Pass in England lebt und sich – verständlicherweise – weigert, irgendwas zu tun, um ihre über Jahrzehnte ausgeübten Rechte zu behalten.

Und dann sind da noch Leute wie jene in der Guardian-Story zitierte, auf Sky-TV zu Wort gekommene Portugiesin, denen aus oft undurchsichtigen, formalen Gründen ihr Settled Status verweigert wurde.

Wenn die neue Hardliner-Innenministerin Priti Patel großspurig erklärt, dass die Bewegungsfreiheit für EU-Bürger*innen am 31. Oktober endet und selbst ein fanatischer Brexit-Verfechter wie der Europa-Abgeordnete Daniel Hannan seine Innenministerin vor der Möglichkeit eines neuen Windrush-Skandals warnt, dann lässt sich das nicht mehr als überempfindliches Getue vom Tisch wischen.

Und doch drehe ich dann verschwollenen Auges heute morgen das „Today Programme“ von BBC Radio 4 auf und kann mir wieder anhören, wie der Entwicklungshilfeminister Grant Shapps (unfassbarer-, wenngleich irrelevanterweise ein Cousin von Mick Jones von The Clash bzw. Big Audio Dynamite) dem nur mäßig interessierten Interviewer völlig unhinterfragt den selben alten Bullshit auftischt. Unserer aller Rechte blieben garantiert bestehen. Wenn nur der Rest der EU gegenüber den dort lebenden Brit*innen so großzügig wäre!

Zugegeben, im Gesamtzusammenhang der systematischen Desinformation (Ich und George Orwells Geist warten schon gespannt auf die anlaufende No-Deal-Brexit-Info-Kampagne der Regierung mit dem griffigen Titel „Get ready!“) ist das jetzt auch bloß nur mehr ein Detail.

Das, was einem dann aber wirklich den Schlaf raubt, ist, wie die Portugiesin im obigen Video es so gut ausdrückt, jenes erdrückende Gefühl der Geiselhaft, der völligen Stimmlosigkeit, während das Land, dem man sich irgendwann einmal anvertraut hat, in eine düstere, gefährlich autoritäre Richtung driftet.

Boris JOhnson Puppe als Totengräber der Demokratie

APA/AFP/DANIEL LEAL-OLIVAS

Die Rolle der Queen: Ein gewähltes Staatsoberhaupt hat schon was für sich

Ich hatte es am Dienstag hier bereits in Aussicht gestellt, dass Boris Johnson das Unterhaus durch eine sogenannte „prorogation“, also eine per königlichem Edikt ausgerufene Sitzungspause, davon abhalten könnte, einen No Deal-Brexit zu vereiteln, und ebendas hat er nun (wie alle, die das hier lesen, fraglos schon vernommen haben werden) also tatsächlich durchgezogen.

Die Königin gab ihren Sanktus dazu, aber sie hatte natürlich keine andere Wahl, als gemäß der Konvention der „advice“ ihres Regierungschefs zuzustimmen, wenn sie sich nicht selbst zum Zentrum einer Verfassungskrise machen wollte. Schließlich hat sie selbst kein demokratisches Mandat.

Zeigt sich, dass ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt, selbst nur ein repräsentatives, schon einiges für sich hat, aber wem erzähl ich das hier?

Wirklich spannend wird’s allerdings, wenn – wie Buzzfeed neulich berichtete - Johnson tatsächlich die Königin dazu anweisen sollte, einem vom Unterhaus gegen seinen Willen verabschiedeten Gesetz zur Verzögerung des Brexit ihre königliche Zustimmung zu verweigern.

Undenkbar vielleicht, aber wir haben es hier mit Leuten zu tun, die in ihrer Verachtung für die parlamentarische Demokratie sogar so weit gehen würden, zur Verhinderung von Debatten Feiertage zu erfinden bzw. das House of Lords mit frischen Pro-Brexit-Lords und -Ladies aufzufüllen.

Gar keine Überraschung übrigens, schließlich gilt Johnsons Chefstratege in der Downing Street, in meinem letzten Blog bereits erwähnter Dominic Cummings, wegen seiner Verweigerung eines Auftritts vor einem parlamentarischen Komitee zur Ermittlung über Irreführung in der Kampagne zum Brexit-Referendum seit März offiziell als „in contempt of Parliament“. Sprich: Das Unterhaus selbst hat befunden, dass Cummings die demokratischen Institutionen missachtet.

Und was sagt das nun über den, der ihn als seinen Berater in die Downing Street gesetzt hat?

Gestern noch Missbrauch - morgen nur mehr ein Trick von vielen

Schwer zu sagen, ob in der sogenannten öffentlichen Meinung die Empörung über dieses zynische Aushebeln der parlamentarischen Demokratie stärker ist, oder das von der Mehrheit der Presse verkaufte Bild eines entschlossenen Premierministers, der ein intrigantes politisches Establishment davon abhält, den „Volkswillen“ zu umgehen.

Sogar The Times hat heute in ihrem Leitartikel den Protest gegen Johnson schon als „hysterisch“ bezeichnet. So wird diktatorisches Vorgehen bagatellisiert und normalisiert. In einem Land ohne geschriebene Verfassung macht der Präzedenzfall die Regel. Und was gestern noch ein Missbrauch der demokratischen Ordnung war, ist morgen dann schon nur mehr ein Trick von vielen.

Was Johnson allerdings politisch ganz sicher schaden wird, ist dass Ruth Davidson, die bisher mit Zähneknirschen loyale Remainerin als Chefin der schottischen Konservativen zurückgetreten ist.

Ohne sie, die offen als Lesbe in Erscheinung tretende Identifikationsfigur eines sozial-liberalen Konservatismus, werden die bei den Wahlen 2017 erworbenen 13 konservativen Sitze in Schottland bei Neuwahlen nicht zu halten sein. Und ohne diese 13 Sitze wäre die – nicht vergessen: jetzt schon nur mehr mithilfe der nordirischen DUP bestehende – konservative Mehrheit dann endgültig futsch.

Das sag ich mir jedenfalls so vor, um wieder einschlafen zu können, so gegen fünf, halb sechs, bevor der Wecker läutet.

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