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"Joker" Filmstill

Nico Tavernise

„Joker“ -Joaquin Phoenix rockt Venedig

Mit der heiß erwarteten DC- Comicverfilmung „Joker“ setzt „Hangover“-Regisseur Todd Phillips im Wettbewerb von Venedig mit einem gewaltig düsteren Horrorfilm die Genre-Standards neu. Es gibt schlichtweg keine Superhelden mehr und nur einen Superstar. Joaquin Phoenix legt als tanzender Psychopath eine irre kranke Solo-Show hin. Für diesen harten Realismus im Retro-Look-Gewand braucht man: Supernerven und Frank Sinatras Song „That´s life“, der lange schmerzhaft nachhallen wird.

Von Petra Erdmann

Am Samstagabend war am Lido die Weltpremiere eines Hollywood-Auteurs angesagt, der nichts Geringeres vor hatte, als den Superhero-Mainstream konsequent auszuhebeln. US-Komödien-Macher Todd Phillips („Hangover“) hat sich auf die Selbstzerfleischung eines einzigen Antihelden konzentriert. Im Kino gebiert das soziale Ungleichgewicht seine Bösewichter ohnehin von ganz allein. Die Kehrtwende von einem familienfreundlichen Entertainment-Kosmos wie „Avengers: Infinity War“, in dem 34 Superhelden ihre Mission übererfüllen, hat Phillips verstörend heftig vollzogen. Warum nicht den wenig innovativen Spielraum an der Kinokasse in eine uneingeschränkte Liebeserklärung für einen Psychopathen verwandeln? Und außerdem: Horror is still hot shit!

Lächerlich böse oder furchtbar erbärmlich. So eine Bürde ist für Leinwand-Clowns nie leicht zu nehmen. Joaquin Phoenix packt diese grenzgeniale Tour-de-Force, indem er Weltklasse zwischen gespenstischen Ticks, verstörend groovy Tanzeinlagen und qualvollen Lachanfällen changiert. Arthur Fleck ist ein Borderliner, der mit seiner alten Mutter ab und zu auch das Bett teilt. Er halluziniert von einer Karriere als Stand-up-Comedian und fantasiert die alleinerziehende Nachbarin als seine verständnisvolle Geliebte. Die rote Nase und das weiße Gesicht reichen gerade dafür aus, um im Kinderspital oder als lebendes lustiges Werbeschild ein prekäres Leben zu bestreiten.

"Joker" Filmstill

Nico Tavernise

Gotham City gleicht im Batman-Spin-Off bei Todd Phillips dem heruntergekommenen New York der 70er- und 80er-Jahre. Die Kamera nimmt uns mit auf eine nächtliche Höllentrip durch ein Manhattan, das von apokalyptischen Clown-Riots und Plünderungen heimgesucht wird. Der Joker drückt dabei auf dem Rücksitz sein verschmiertes, melancholisches Gesicht gegen die Autoscheiben. Die Referenzen auf Martin Scorseses New Hollywood-Meisterwerke „Taxi Driver“ (1976) und „King of Comedy“ (1982) lassen sich klar neben Robert De Niros Nebenrolle als TV-Talkmaster in „Joker“ festmachen. Die ausweglose Ausgrenzung eines psychisch Kranken zeichnen Todd Phillips und sein Hauptdarsteller Joaquin Phoenix zum Fürchten komplex.

“What was so attractive about this character for me is he’s so hard to define. You don’t really want to define him”, hat Phoenix seinen „Joker” auf der Pressekonferenz interpretiert. An den Performances seiner „Joker“-Vorgänger Jack Nicholson, Heath Ledger oder Jared Leto wollte er sich nicht messen. Er habe extrem viel abgenommen. Das hätte seine Psyche derart belastet, dass er ohnehin fast verrückt geworden wäre.

"Seberg" Filmstill

La Biennale

Kristen Stewart in „Seberg“

Am Freitag durfte auch Kristen Stewart in dem US-Biopicture „Seberg“ am Lido verrücktspielen. Sie verkörpert darin die psychisch labile Sixities Popkultur-Ikone Jean Seberg. Dass sich der Film als große Enttäuschung entpuppte, ist zweifellos nicht auf Stewarts Schauspiel und blondem Kurzhaarschnitt gewachsen. Regisseur Benedict Andrews hat einen seifigen Paranoia-Thriller fabriziert. Mit dem tragischen Privatleben der Schauspielerin, die 1960 mit Jean-Luc Godards „À bout de souffle“ („Außer Atem“) zum internationalen Aushängeschild der Nouvelle Vague wurde, hat Benedict ein lahmes Politdrama inszeniert.

Es nähert sich den zwar weniger bekannten Schattenseiten der Aktivistin Seberg, bleibt aber recht eindimensional. Der Filmstar hatte die Black Panther-Bewegung mit Schecks und skandalösen Liebesaffären gefüttert. Das FBI überwachte daraufhin das It-Girl und setzte es öffentlich dem Rufmord aus, der seinen Suizid noch heute spekulativ nährt. „Seberg“ verfängt sich in einer selbstmitleidigen Opfer-Rolle und steuert obendrein eine moralinsaure Parallelstory bei. Einen ambitionierten FBI-Agenten plagt zusehends das schlechte Gewissen. Mit der Wahrheit nimmt es das Drehbuch weniger genau und verlässt sich unter dem „An icon sells!“ auf uninteressante Oberflächlichkeiten.

J’accuse – Ich klage an

Roman Polanski nimmt es in seinem Justizdrama „J’accuse“ um die Affäre Dreyfus mit den historischen Fakten fesselnd genau und überrascht mit seinem besten Film seit Jahren. Dabei stellt Polanski nicht den unschuldigen Juden Alfred Dreyfus (Luis Garrel ohne Haare!), der um 1895 wegen Landesverrat von der französischen Armee verbannt wurde, in den Mittelpunkt. Jean Dujardin („The Artist“) besticht als der eigentliche Held und spätere Kriegsminister Marie-Geroges Picquart.

Der pflichtbewusste Militär hat die Fehlverurteilung von Dreyfus als Höhepunkt eines stark aufkeimenden Antisemitismus entlarvt und den Prozess jahrelang immer wieder aufgerollt, was letztendlich einem Freispruch des Angeklagten führte. Polanski hat im kürzlich erschienenen Presseheft von „J’accuse“ mit dem französischen Schriftsteller Pascal Bruckner in einem Interview fragwürdige Parallelen zwischen seinem Filmstoff und dem eigenen Prozessmühsal finden können.

"J'accuse" Filmstill

La Biennale

Wie erwartet ist der 86-jährige Roman Polanski anlässlich Venedig-Premiere von „J’accuse“ nicht erschienen. Die Risiken einer Verhaftung und Auslieferung an die US-Behörden wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen sind in Italien hoch. Die argentinische Regisseurin Lucrecia Martel ist dem Gala-Dinner von „J’accuse“ demonstrativ ferngeblieben. Den Goldenen Löwen wird die Präsidentin der diesjährigen Wettbewerbsjury wohl nicht an Polanski vergeben, auch wenn er, sehr klassisch, einen fabelhaften Film gemacht hat.

Bei Martel könnte schon eher das chilenische Kino und sein Regisseur Pablo Larraín („Jackie“) mit seiner originellen Experimentierfreudigkeit und offenen Erzählform ziehen. Das erstaunlich bizarre Adoptionsdrama „Ema“ schlägt einen unerwarteten Haken nach dem anderen. Mit der androgynen Hauptdarstellerin Mariana Di Girolamo und Gael García Bernal landet man baff in einer queeren Welt pulsierender Reggaeton-Tanzorgien.

Neben „Ema“ zählt wohl auch Noah Baumbachs Tragikomödie „Marriage Story“ zu den Preisfavoriten in Venedig. Adam Driver und Scarlett Johansson liefern einander eine schmerzhaft komische Trennungstortur, die keiner von beiden so erwartet hat. Laura Dern steckt in sexy engen Kleidern und in der schrägsten Scheidungsanwältin der Filmgeschichte.

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