FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Anti-No-Deal-Marsch in London letzten Samstag

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Der Anfang des Wahnsinns

Boris Johnsons Nimbus als geborener Gewinner ist fürs Erste demontiert, er steht im Unterhaus so hilflos da wie May im März. Ja mehr noch, seine Regierungsmehrheit ist seit gestern futsch. Doch das wahre demokratiepolitische Gemetzel kommt erst.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Schon ein gutes Theater, das britische Unterhaus. Ein paar unvergessliche Klassiker von gestern Abend:

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Die Szene, als Boris Johnson gerade erst zu seiner einleitenden Rede anhob und sich vor seinen Augen der konservative Abgeordnete Philip Lee gegenüber auf den Oppositionsbänken zwischen Liberaldemokrat*innen niederließ. Mit dem bloßen Senken seiner Hinterbacken auf grünes Leder löschte Lee Johnsons Parlamentsmehrheit von einer Stimme aus („Crossing the floor“, nennt man das im Fachjargon).

Oder das demonstrativ gelangweilte Herumlungern des Leader of the House Jacob Rees-Mogg in der ersten Reihe während der Debatte vor der Abstimmung. „Sit up“, riefen die Labour- und Libdem-Abgeordneten ihm von der anderen Seite her zu, und er ignorierte sie mit unverhohlener Arroganz, lehnte sich bloß noch weiter zurück. Natürlich wusste er nur zu genau, dass Bilder davon die Runde machen würden.
Und dass aus ihnen die blanke Verachtung für jenen von pompösen Selbstdarsteller*innen bevölkerten „talking shop“ (vgl. „Quatschbude“) namens Unterhaus spricht.

Schließlich planen Boris Johnson, Rees-Mogg und Co. ja (wie hier berichtet) eine Neuwahl unter dem Motto „Das Volk versus das Parlament“, und diese Geste entspricht jenem Sentiment perfekt (der mitschwingende Klassenaspekt sollte eigentlich gegen Rees-Mogg wirken, aber sein Gegenüber ist ebenfalls das „Establishment“, noch dazu eines der Parvenus).

Aber spulen wir einmal kurz zurück: Warum, fragt ihr euch zurecht, konnten die da jetzt überhaupt abstimmen, nachdem es doch gerade erst hieß, Johnson habe das Unterhaus per königlichem Edikt vorübergehend auf Eis legen lassen?

Hat er auch, aber erst ab nächster Woche. Popelige drei Tage hat er dem Unterhaus nach der Sommerpause gegönnt, bevor er (bzw. die Queen auf seine Anweisung) es bis Mitte Oktober in die nächste Zwangspause schickt. Ob es wirklich so schlau war, die Kolleg*innen mit diesem verfassungsrechtlichen Winkelzug zu provozieren? Ich zitier mich ja ganz ungern selbst, aber „das Ergebnis so einer unverbrämt diktatorischen Aktion,“ schrieb ich hier am 27.8., „wäre, ein derzeit zerstrittenes Parlament gegen sich zu vereinen.“

Anti-No-Deal-Marsch in London letzten Samstag

Robert Rotifer

Und wie es abzusehen gewesen war, so kam es auch. Mit einer satten Mehrheit von 28 Stimmen verlieh sich eine Allianz aus Opposition und konservativen Rebellen die Kontrolle über die heutige Tagesordnung zwecks Beschluss eines Gesetzes, das den Premierminister zwingen soll, in Brüssel um eine Verlängerung der Artikel-50-Frist über den 31. Oktober hinaus anzusuchen. Falls er bis dahin keinen Deal mit der EU abschließen kann.

Allerdings war und ist seine gestrige und auch die weitere, heute bevorstehende Niederlage durchaus Teil von Johnsons Plan, denn, wie ich ebenfalls schrieb:

„Johnson wüsste einen großen Teil der Medienlandschaft und seiner Partei hinter sich“, wenn er das Unterhaus der „Kollaboration“ mit Brüssel bezichtigt. Er verwendete gestern sogar das vom letzten Weltkrieg her emotional aufgeladene Wort „surrender“. Mit dieser Rechtfertigung könnte er (letztes Selbstzitat, versprochen) „bei einer Neuwahl durch Deselektion aller lästiger Widerredner*innen den rechten Putsch innerhalb der Tories vollenden.“

In dieser Hinsicht zumindest hatte ich Johnsons Tollkühnheit bzw. die seines Beraters Dominic Cummings schwer unterschätzt. Denn nun hat er gleich über Nacht sämtliche 21 Rebellen aus der eigenen Fraktion rauswerfen lassen. Darunter so Leute wie Philip Hammond, vor zwei Monaten noch Theresa Mays Schatzkanzler, der „Father of the House“ (dienstältester Abgeordneter) Ex-Schatzkanzler Ken Clarke, Johnsons Ex-Gegenkandidat um den Parteivorsitz Rory Stewart und Nicholas Soames, der Enkelsohn seines großen Idols Winston Churchill.

Anti-No-Deal-Marsch in London letzten Samstag

Robert Rotifer

In nüchternen Zahlen bedeutet diese Säuberungswelle, dass er nun 22 Abgeordnete von der Parlamentsmehrheit entfernt ist und jede demokratische Legitimation zu regieren verloren hat.

Aber los sind wir ihn deshalb noch lange nicht, denn: Dank des einst unter David Cameron zur Stabilisierung seiner Koalitionsregierung beschlossenen „Fixed Term Parliament Act“ braucht es eine Zweidrittelmehrheit, um vor dem Ende der Legislaturperiode Neuwahlen auszurufen. Und weder Labour noch die Libdems wollen Boris Johnson diesen Gefallen tun, denn was passiert vor einer Neuwahl?

Richtig, das Parlament wird aufgelöst, und a) das gerade erst anvisierte Anti-No-Deal-Gesetz würde erst recht nicht beschlossen bzw. b) hätte Johnson die Möglichkeit, den Wahltermin nach Gutdünken zu verschieben. Und seinem Wort, dass er das niemals tun würde, traut zurecht längst niemand mehr. Daher sagt Jeremy Corbyn nun: In diese Falle tappen wir nicht, wir wollen Neuwahlen, aber erst wenn die No Deal-Option vom Tisch ist.

Anti-No-Deal-Marsch in London letzten Samstag

Robert Rotifer

Woraufhin die Regierung – was sonst! - die Opposition der Heuchelei und Feigheit bezichtigt. Als Finte in diesem Fechtkampf ist das ungefähr so elegant und undurchschaubar wie eine beidhändig über dem Kopf geschwungene Axt.

Er hielt sich für Sherlock Holmes mit einem Schuss Alan Turing

Rhetorisch, taktisch und nach allen anderen denkbaren Kriterien war Boris Johnsons Performance gestern im Unterhaus in der Tat erbärmlich. Allein, ein Kind der englischen Aristokratie kann sich in haarigen Fällen immer darauf verlassen, dass ein „whipping boy“ die Prügel kriegt. Diese Rolle spielt nun Dominic Cummings, der Mann fürs Grobe in der Downing Street und ehemalige Chef-Stratege der Leave-Kampagne, dessen angebliches politisches Genie so gehypet wurde, dass Channel 4 ihm ein eigenes Polit-Drama mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle widmete.

Mit dem fatalen Resultat, dass nicht nur die Öffentlichkeit, sondern wohl auch er selbst sich für Sherlock Holmes mit einem Schuss Alan Turing hielt.

Dieser Mythos ist nun für Erste ruiniert, und angeblich wird fraktionsintern bereits laut nach Cummings’ Kopf gerufen. Schließlich scheint seine aggressive Taktik, langverdienten Legenden der Tory-Partei mit Ausschluss zu drohen, ganz spektakulär nach hinten losgegangen zu sein. Die klassische Selbstüberschätzung eines Machtmenschen, der sich nicht vorstellen kann, dass auch andere sowas wie Selbstachtung und Stolz besitzen könnten (Cummings selbst ist übrigens nicht einmal Parteimitglied).

Anti-No-Deal-Marsch in London letzten Samstag

Robert Rotifer

Aber obwohl ich mich gern von der gestrigen Jubelstimmung infizieren lasse, wär ich mir da nach einer Nacht Schlafen (zur Abwechslung wieder einmal gut) nicht mehr ganz so sicher.

Denn das Problem daran, wenn Populist*innen versuchen, ihr Volk für dumm verkaufen, ist erfahrungsgemäß ja leider, dass sie dabei meistens recht behalten.

Und bevor mich jetzt jemand ein herablassendes, elitäres Schwein schimpft: Ganz im Gegenteil, herablassende, elitäre Schweine erkennt man meist daran, dass sie dem Volk eine ihm innewohnende Weisheit andichten.

Es ist also durchaus möglich, dass – wenn die Neuwahlen dann kommen – Johnson/Cummings’ Rechnung voll aufgeht. Sicher, die aus ihrer Partei hinaus expedierten konservativen Ex-Granden werden sich nicht still verhalten. Und Johnsons Nimbus als geborener Gewinner ist fürs Erste demontiert. Nach bloß einer Abstimmung sieht er bereits genauso hilflos aus wie Theresa May, und die hatte immerhin noch eine theoretische Regierungsmehrheit.

Doch wenn die zwei an den Scottish Courts und dem High Court in London anhängenden, von 75 Unterhausabgeordneten und auch dem konservativen Alt-Premier John Major unterstützten Gerichtsverfahren gegen die Pausierung des Parlaments keinen Erfolg bringen, hat Johnson auch ohne Mehrheit ab nächste Woche wieder freie Hand, sein Narrativ von der Sabotage des Volkswillens durch seine gewählten Repräsentant*innen zu spinnen.

So oder so wird die Demagogie des nächsten Wahlkampfs, verstärkt durch die rechte Presse, demokratiepolitisch gesehen ein furchtbares Gemetzel werden.

Trotzdem, Opposition und Rebell*innen haben jetzt keine andere Wahl, als „No Deal“ zu verhindern. Und vor allem der ermüdeten Öffentlichkeit endlich klar zu machen, dass „No Deal“, der vielbeschworene „clean Brexit“, eben nicht das „saubere“ Ende, sondern erst der Anfang des Wahnsinns wäre. Nur wenn sie das schaffen, können und werden sie Johnson bei den Neuwahlen schlagen.

Anti-No-Deal-Marsch in London letzten Samstag

Robert Rotifer

Bilder von der spontanen „Stop The Coup“-Demo am Samstag, an der geschätzte 100.000 Menschen teilnahmen. Am Parliament Square und vor der Downing Street wird täglich demonstriert, unter dem Slogan „You shut down our Parliament, we shut down the streets“ finden Sitzproteste statt. In den letzten Tagen kam es zu keinen gröberen Auseinandersetzungen mit Pro-Brexit-Demonstrant*innen, aber die Stimmung heizt sich merklich auf.

Diskutiere mit!

Aktuell: