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Velvet Negroni blau

Timothy Saccenti

Neon Brown ist Schönheit aus Angst

Die Musik von Velvet Negroni ist wie ein Opiat-Cocktail in den Venen von Schmerzpatientinnen. Alles löst sich auf, Schmerzen zerfliessen zu einem wohlig warmen Kribbeln.

Von Natalie Brunner

Interviews sind für Velvet Negroni hörbar und spürbar eine Qual. Wie das nicht Formulierbare in Worte pressen und das gesichtslose Gegenüber am anderen Ende der Leitung nicht beleidigen oder ihm das Gefühl vermitteln, dass Interviews zu geben eine einzige Tortur ist? Situationen wie diese seien der harte Teil seines Jobs, meint er. „Meine Poesie ist wie eine Rüstung, ich verstecke mich in und hinter den Worten.“ Das verstehe ich, und so haben wir das Frage-Antwort-Ping-Pong gelassen und uns gegenseitig mit Geschichten und Beispielen darüber befeuert, was wir an unserem jeweiligen Job für sinnlos erachten.

Es muss ja auch nicht sein. „Neon Brown“ ist ein dunkel strahlender Diamant. Viele Lagen von Echos und metallischen Drumsounds sind dicht verschachtelt und in satten Bass gehüllt. Da muss nicht mehr mit Worten nachgeschliffen werden. Velvet Negronis Album ist so dicht, ein so ineinander verschmolzenes Amalgam, dass es sinnlos erscheint, einzelne Stränge herauszukitzeln. Erinnert ihr euch an das Spielen mit Plastilin? Wenn man alle Farben zusammengemischt hat und durchknetet? Der Moment, bevor alles grau wird und die verschiedenen Farbstränge, komplex ineinander gewunden, noch sichtbar sind? Das ist „Neon Brown“ von Velvet Negroni.

Es macht schon Sinn, dass der Musiker Jeremy Nutzman sich nach einem nicht existenten, aber sehr sophisticated klingenden Cocktail benannt hat. Sinistrer Afterhour RnB in der Tradition der ersten drei Mixtapes von The Weeknd. Velvet Negronis Texte sind abstrakte Gedankenströme, deren surreale, poetische Schönheit auch mir, die ich nicht englischer Muttersprache bin, zugänglich ist. Bilder sind sofort da, verschwinden aber, wie auch die Sounds auf der Platte, sofort wieder in einem Wirbel.

Velvet Negroni legt in der Presseinfo zum Album bereits alle Daten und Karten auf den Tisch und die zeichnen eine bis dato eine dramatische Biographie: „Negroni wuchs als schwarzes, adoptiertes Kind in einer weißen, evangelischen und streng christlichen Familie auf. Seine Adoptivmutter lehrte ihn Virtuosität – egal ob als klassisch ausgebildeter Konzertpianist oder als Eiskunstläufer, der in Wettkämpfen antritt. Doch um seiner Leidenschaft als Gitarrist in seiner ersten Band zu folgen, musste er sich aus dem Schlafzimmer-Fenster schleichen.“

Die Musik durfte er auch nicht hören, erzählt er mir; deshalb mischen sich in seiner Musik Einflüsse von den religiösen Musicals (bis heute habe ich erfolgreich die Existenz von so etwas aus meinem Bewusstsein verdrängt) die er als ganz junges Kind bei seinen Adoptiveltern angesehen hat, mit dunklem Ambient.

Albumcover "Neon Brown" by Velvet Negroni

4AD

„Neon Brown“ von Velvet Negroni ist am 30.08.2019 auf 4AD erschienen.

Dem Erziehungsversuch seiner Adoptiveltern entzog sich Velvet Negroni als Teenager. Er schiebt dem Wahnsinn einen Riegel vor und bricht aus. Er haut ab und lebt bei Freunden auf der Couch, tritt in Clubs als Freestyle MC auf, übernachtet backstage oder in der Garderobe. Es sind raue Jahre. 2016 entdeckt Bon Iver Velvet Negroni - damals noch unter anderem Alias - aktiv für sich und nimmt ihn mit auf Tour. Kid Cudi und Kanye West gehen offenbar zu Bon-Iver-Konzerten. Sie sind von dem jungen Mann im Vorprogramm derart begeistert, dass sie bei ihm einen Text für ihr gemeinsames Projekt Kids See Ghosts bestellen. Es sind die Lyrics für den Song „Feel the Love“.

Die Reise vom Sofa der Freunde zu Kanye West ging etwas zu schnell für Velvet Negroni. Druck, Deadlines und Drogen bringen ihn ins Krankenhaus, wo er sich innerhalb einiger Monate mühevoll wieder selbst zusammensetzt.

Sprachliche Splitter davon sind auf seinem grandiosen Album „Neon Brown“ zu hören, zum Beispiel im Song „Wine Green“:

NO. NO. ULTIMATUM
SAY WHOA YEAH.
I I I SIMPLY WEASEL WHITE WINE
MY HIGH I SING QUIET ALL THE WAY HOME
PLEASE SIR
DON’T FIGHT YOUR BOY ON THE PAYPHONE

oder in „Poster Boy“:

YOU SOUND DEFEATED
EVERYDAY SIMULATED
HIP HIP TALK DAILY YOU FADED

Ich hoffe sehr, dass Velvet Negroni, ein Kid, das tatsächlich Geister und Dämonen nicht nur gesehen, sondern auch getroffen hat, nicht von ihnen und auch nicht vom Mainstream und der Musikindustrie verbrannt wird. Vielleicht schafft es irgendwann auch der eine oder andre Lichtstrahl in die Twilight Zone seines Schaffens.

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