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Schauspielerin Eliza Scanlen

La Biennale di Venezia - foto ASAC

Milchzähne am Filmfestival Venedig

Die Teenager-Tragikomödie „Babyteeth“ ist einer der nur zwei Wettbewerbsbeiträge am Lido, der von einer Regisseurin kommt - in dem Fall von der Australierin Shannon Murphy. Favoriten-Rätselraten, resümieren und Brutales durchhalten heißt es bis zum kühlen Ende des Festivals.

Von Petra Erdmann

Nicht genug, dass die 16jährige Milla (Eliza Scanlen) an Krebs erkrankt ist. Sie verliebt sich noch dazu in einen süßen Drogensüchtigen (Toby Wallace). Was nach einer dick aufgetragenen Coming-of-Age-Story riecht, unterscheidet sich dann doch von den vielen jugendlichen Krebsdramen, die in den letzten Jahren dem kitschigen „Carpe-Diem“-Kurs folgten (u.a. „The Fault in our Stars“). Theater- und Serienmacherin Shannon Murphy will in ihrem Kinodebüt mit bitterer und lakonischer Komik den Genre-Klischees, die einen zum Durchheulen bringen sollen, entkommen. In dieser gut situierten, dysfunktionalen Filmfamilie sind es die Eltern, die angesichts des Todes immer stärker implodieren. Diese quirky Abwärtsspirale kommt letztlich nicht ohne Stereotypen aus: Warum muss die Mutter, ein ehemaliges Piano-Wunderkind, von ihrem Psychiater-Ehemann ständig auf Beruhigungstabletten gesetzt werden? Warum ist die Sucht des romantischen Toy Boys nur ein dramaturgischer Side Effect, während die Heldin einen triftigen Grund ins Drehbuch geschrieben bekommt, Morphium zu nehmen?

Schauspielerin Eliza Scanlen

Lisa Tomasetti

Die fabelhafte „Babyteeth“-Hauptdarstellerin Eliza Scanlen ist zu Recht up-and-coming. Serienjunkies kennen Scanlen aus der düsteren HBO-Miniserie „Sharp Objects“. Die 20jährige spielte darin die psychopathische Halbschwester von Amy Adams‘ Figur. Bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig konnte Eliza Scanlen in ihrer ersten Spielfilm-Hauptrolle begeistern. Die junge Australierin, die seit 3 Jahren als Schauspielerin arbeitet, wird auch in Greta Gerwigs sehnsüchtig erwartetem „Little Women“ zu sehen sein. Das Schwesterndrama im amerikanischen Bürgerkrieg startet nicht vor Anfang nächsten Jahres in unseren Kinos.

Letztlich ist „Babyteeth” zu zahnlos, um zu den Löwen-Favoriten zu zählen, illustriert aber, dass Venedig-Direktor Alberto Barbera die denkbar schlechteste Genderquote im Wettbewerb eines A-Filmfestivals zu verantworten hat. Es steht hier 9,5 % Frauen gegen 90,5 % Männer im Regiesessel.

Die brodelnde Debatte, mit der sich fast jede Künstlerin auf den Festival-Pressekonferenzen konfrontiert sah, war die der Ungleichstellung. Shannon Murphy zeigte sich nicht glücklich darüber. „Es ist ziemlich anstrengend, als Regisseurin immer auf diesen Missstand angesprochen zu werden. Das rückt unsere Filme in den Hintergrund und fördert nur weiter den großen Mythos des männlichen Regisseurs und seines poetischen Kunstschaffens.“ In Australien gäbe es ohnehin ein sehr effektives, staatliches Förderprogramm namens „Gender Matters“. Es verpflichte u.a. Produktionsstudios dazu, eine 50:50-Quote in allen Abteilungen einzuführen.

Petra Erdmann über die Eröffnung der Internationalen Filmfestspiele Venedig mit dem französischen Familiendrama „La Verité“ des diesjährigen Cannes-Gewinners Kore-eda Hirokazu.

Nicht nur der Wandel des Klimas hat sich während der besonders heißen Festivaltage am Lido bemerkbar gemacht, sondern auch der des Kinos. Netflix brachte wieder einmal den Starglanz in den Wettbewerb. Adam Driver und Scarlett Johansson („Marriage Story“) waren da. Meryl Streep und Gary Oldman traten für die etwas maue Polit-Eskapade „The Laundromat“ von Steven Soderbergh an. Der Regisseur hat die Panama-Papers-Affäre um die gewissenlosen Superreichen eher zu einem komödiantischen Lehrstück gemacht und weniger zu einer schwungvollen Erklärung eines Finanzdesasters, wie es Adam McKay mit „The Big Short“ vorgemacht hat.

Meryl Streep in "The Laundromat"

The Laundromat

Die Superstars sind längst Richtung Filmfestival Toronto zum Oscarfavoriten-Show-off gezogen. In den letzten Tagen hat sich dann das europäische Arthouse-Kino in den preisverdächtigen Vordergrund gedrängt. Der Italiener Pietro Marcello hat Jack Londons Bildungsroman „Martin Eden“ ins 20. Jahrhundert und nach Italien verlagert. Die Literaturadaption erzählt von einem leidenschaftlichen jungen Mann aus der Gosse Neapels. Martin Eden verliebt sich in das Upper-Class-Mädchen Elena. Fortan hungert der obsessive Ehrgeizling nach sozialem Prestige und einer Schriftstellerkarriere. Regisseur Pietro Marcello verfährt mit dem Aufstieg und Abstieg seines Protagonisten eindringlich stilsicher. Phasenweise verquickt Marcello französisch-italienische Schlagermusik mit dokumentarischem Archivmaterial. Dieser traumwandlerische Neorealismus hat Pop-Appeal. „Martin Eden“-Darsteller Luca Marinelli, ein charismatischer Beau, erinnert an die italienische Schauspiel-Ikone Franco Nero.

Die großen Meister Visconti, Bertolucci und Rossellini haben in Pietro Marcellos Werk unverkennbar Spuren hinterlassen. Was „Martin Eden“ konsequent durchzieht, ist die leidenschaftliche Verehrung für das Kino. Dies könnte auch die internationale Jury, geleitet von der argentinischen Regisseurin Lucrecia Martel („Zama“), begeistern. Der Goldene Löwe scheint unter dem Juryvorsitz der Feministin Martel für Roman Polanskis von der Kritik hochgelobtes Justizdrama „J´accuse“ in weiter Ferne.

Schauspieler Luca Marinelli

La Biennale di Venezia

Hoffentlich als schlechtes Gerücht erweisen sich die hohen Chancen einer weiteren Literaturverfilmung auf einen Goldenen Löwen. Das Kriegsdrama „The Painted Bird“ des tschechischen Regisseurs Václav Marhoul verfolgt in einer überstilisierten und sadistischen Gewalttour den wiederholten Missbrauch eines kleinen Jungen während der NS-Besatzungszeit. Übel - auch der Zustand, in den das ultrabrutale und im wahrsten Sinne des Wortes schwarzweiß gezeichnete Drama sein Publikum befördert. L´art pour l´art!

Filmstill "The Painted Bird"

The Painted Bird

Zwei Wettbewerbsbeiträge stehen noch aus. Das größte Gebrüll und damit auch das letzte Aufzucken des Starrummels am Lido wird es am Freitagabend geben, wenn Johnny Depp und Robert Pattinson, die in der Verfilmung von J.M. Coetzees Roman „Waiting for the Barbarians“ als Militärs in einem dystopischen System zu sehen sind, am Roten Teppich erscheinen, bevor am Samstag der Kampf um den Goldenen Löwen ein Ende hat.

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