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In den Stollen der österreichischen Identität

„Das flüssige Land“ heißt das Romandebüt der Wiener Autorin Raphaela Edelbauer und ist ein virtuoser Beitrag zum Genre des Anti-Heimat-Romans.

Von Daniel Grabner

Raphaela Edelbauer

Raphaela Edelbauer

„Das flüssige Land“ von Raphaela Edelbauer ist im Klett-Cotta Verlag erschienen.

In Kiruna, der nördlichsten Stadt von Schweden, weiß man es schon seit geraumer Zeit. Der jahrzehntelange Abbau von Magnetit – Eisenerz und die damit einhergehende Untertunnelung nahe am Stadtgebiet haben das Terrain, auf dem seit Beginn des 20. Jahrhunderts Menschen ihre Häuser bauen, unsicher gemacht. Vor einigen Jahren hat man kurzerhand beschlossen, die gesamte Stadt ein paar Kilometer weit zu verrücken. Der Umzug, der bereits im Gange ist, soll 2033 abgeschlossen sein, dann werden 18000 Einwohner mitsamt ihrer Häuser dem Bergwerk gewichen sein.

Eine pragmatische Lösung für die es in Raphaela Edelbauers Debüt „Das flüssige Land“ schon zu spät ist. Unter der Stadt Groß-Einland befindet sich ein riesiges Loch, das aus einzelnen Gängen und Stollen eines stillgelegten Kalkbergwerks langsam zusammengewachsen ist. Seit Jahrzehnten ist Groß-Einland von Absenkungen betroffen, immer wieder entstehen Risse in Wänden, springen Fensterbretter auseinander, der Kirchturm steht schief. Dort begnügt man sich aber mit einer österreichischen Lösung. Die schleichende Bedrohung wird von den Groß-Einländern mit phlegmatischer Geduld ertragen, man konzentriert sich auf oberflächliche, kosmetische Ausbesserungsarbeiten, die die Risse, Brüche und Senkungen überdecken sollen und kippt „alibilhalber“ Beton in die Stollen.

„Die Vergangenheit schien uns einfach ohne jede Relevanz zu sein“

Im Roman befindet sich die fiktive Kleinstadt Groß-Einland irgendwo im niederösterreichisch-steirischen Wechselgebiet. Ganz genau weiß das selbst Edelbauers Protagonistin Ruth nicht. Es ist jene Stadt, in der die Eltern der theoretischen Physikerin ihre letzte Ruhe finden wollen, so erfährt es die Protagonistin von ihrer Tante, die ihr die überraschende Todesmeldung der Eltern in Wien überbringt. Da die Heimatstadt ihrer Eltern auf keiner Karte eingezeichnet ist, und nach einigen Nachforschungen selbst die Behörden beteuern, dass es in ganz Österreich keine Ortschaft mit diesen Namen gebe, ist es mehr ein Zufall, dass die Physikerin nach einer mehrtägigen Irrfahrt in Groß-Einland strandet.

Ein Land wie ein Eiland

Der Besuch in Groß-Einland wird für Ruth zur Spurensuche nach ihrer Herkunft. Es ist ein eigentümlicher Ort, an dem die Eltern der Physikerin aufgewachsen sind, der irgendwie aus der Zeit gefallen scheint. Wenn es dunkel wird, dreht noch ein Nachtwächter seine Runden, hinter vorgehaltener Hand spricht man ehrfurchtsvoll von einer gewissen Gräfin. Denn, so erfährt die Protagonistin nach und nach von den eingeschworenen und verschwiegenen Bewohnern, das Gebiet Groß-Einland ist im Besitz dieser Gräfin, die auf einem Schloss am Rande der Stadt lebt, und mit der viele Bürger in Lehnsdienst-ähnlichen Verhältnissen stehen. Edelbauer hat in Groß-Einland die Gegenwart mit der Vergangenheit verschnitten: neben Monarchie, Lehnsdienst und Nachtwächtern, gibt es moderne Glasfaserkabel unter der Stadt (die niemand nutzt), Bürger, die Bad-Taste-Partys organisieren und Geschäftsmänner, die zwar in bierseligen Stammtischrunden und auf Volksfesten wehmütig vom Schilling sprechen, aber auf Online-Shops schwören. Sogar eine Autobahn gibt es in Groß-Einland, „die jedoch aufgrund einer Fehlkonstruktion im Kreis führte.“ Groß-Einland also eine riesige Verkehrsinsel, die zusammen mit Monarchie, Stammtisch und Glasfaserkabel vielleicht ein ganz treffendes Bild für unser Butterbrot-Heimatland abgibt.

Raphaela Edelbauer

Raphaela Edelbauer

Der Debütroman von Raphaela Edelbauer steht auf der Longlist des deutschen Buchpreises.

Abstoßung und Zugehörigkeit

Davon fühlt sich die Physikerin seltsam angezogen und gleichsam abgestoßen. Je länger sie im Ort bleibt, umso mehr Zugehörigkeitsgefühl entwickelt sie. Langsam beginnt Ruth Freundschaften zu schließen, bewohnt sogar das Haus ihrer Großeltern. Die Gemeinde reagiert zuerst abweisend und verschwiegen auf Ruth, doch dann erfährt die Physikerin mehr und mehr Details aus der Geschichte von Groß-Einland: Seit dem 17. Jahrhundert wurden Stollen ins Erdreich gegraben, im 19. Jahrhundert baute man vorwiegend Kalk ab und während des Zweiten Weltkrieges arbeiteten KZ-Häftlinge in den Stollen des Bergwerks an Flugzeugteilen. Nach einer großflächigen Zerstörung der Ortschaft am Ende des zweiten Weltkrieges entschloss man sich dazu, die Trümmer nicht einfach abzutragen, sondern „alles, was einst Groß-Einland gewesen war, mit insgesamt 16000 Kubikmetern Beton und Steinchen zu überschütten und so die Trümmerhaufen mitsamt aller in ihnen liegenden Besitztümer, Leichen, Gebäudeteile, des Mobiliars, der Kanäle, der zerstörten Fahrzeuge und eingegrabenen Waffen in ein für die Zukunft aushärtendes Fundament zu gießen.“

Kollektives Verdrängen

Von der Stadt bekommt die Physikerin die Aufgabe, die immer schneller vonstattengehende Absenkung des Loches zu verhindern, sie soll ein spezielles Füllmittel entwickeln. Als Höhepunkt einer gigantomanischen Kunstmesse (die liebevoll angelehnt an Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ „Parallelaktion“ genannt wird) soll das Loch ein für alle Mal ausgefüllt, die Stadt gerettet werden. Doch Ruth erfährt schon bald von der schrecklichen Vergangenheit von Groß-Einland. 10 Wehrmachtssoldaten hatten am Ende des Krieges begonnen, die Zwangsarbeiter auf grausame Weise mit Benzininjektionen zu töten. Diese Geschichte ist gewissermaßen aufgearbeitet, in der Stadtchronik des Ortes niedergeschrieben, den Opfern wurde ein Denkmal gesetzt. Aber dann entdeck die Physikerin Ungereimtheiten um die Ermordung der Zwangsarbeiter durch die Soldaten. Eine noch eine viel grausamere Geschichte zeichnet sich ab, die die Bevölkerung von Groß-Einland involviert. Viele Hinweise deuten darauf hin, dass die gesamte Bevölkerung an der Ermordung von rund 800 Zwangsarbeitern beteiligt war, die Toten im ganzen Ortsgebiet verstreut auf den Privatgrundstücken der Bewohner unter der Erde liegen.

Anti-Heimat

Das Loch in Edelbauers Geschichte ist Dreh- und Angelpunkt der Handlung aber auch reiches, metaphorisches Reservoir für die großen Themen dieses Romans: die unzureichende Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus, Verdrängung und Erinnerung, Heimat und Identität, Zeit und Geschichte. Dafür entwickelt Edelbauer eine geologische Bildsprache von Löchern, Rissen, Brüchen und Schichten. Der Roman behandelt ähnliche Ereignisse wie jene im KZ Ebensee in Oberösterreich. Er arbeitet aber nicht auf, sondern beschäftigt sich auf einer abstrakteren Ebene mit Erinnerung und Verdrängung. „Das flüssige Land“ ist eine aktualisierte Spielart des Antiheimatromans, ein Stück Nach-Nachkriegsliteratur, in der man schon die (noch immer ungenügenden) Aufarbeitungsleistungen der Nachkriegsgenerationen mit im Blick hat.

Schon vergangenes Jahr hat die Wienerin Raphaela Edelbauer für einen Auszug aus dem Roman den Publikumspreis bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt gewonnen. Ihr Debüt steht auf der Longlist des österreichischen und des deutschen Buchpreises. Eine Empfehlung.

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