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Leuchttafel auf der Autobahn: "Papers may change"

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Bang Bang Boris Yellowhammer

Darf die britische Regierung auf einen „No Deal“-Brexit vorbereiten, wenn das Unterhaus einen solchen untersagt hat? Und wieso ist diese Frage ein Beweis, dass die britischen Remainers genau so eine Inselbrille tragen wie die Leavers?

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Ab wann ist eine öffentliche Informationskampagne eine amtliche Irreführung der Bevölkerung? Ich würde ja sagen, ab dem Zeitpunkt, wo sie mir einen alten Temptations-Song ins Kopfradio rammt, von wo er dann nicht mehr wegzukriegen ist.

Robert Rotifer moderiert jeden zweiten Montag FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

„Get Ready“ ist nämlich nicht nur der Titel einer vom großen Smokey Robinson geschriebenen Motown-Hymne, sondern auch der einer Kampagne, die alle in Britannien Lebenden bereit machen will, mit einem lockeren Hüftschwung dem herannahenden „No Deal“-Armageddon entgegenzuswingen.

Ich kann da jetzt gern einmal zur Regierungswebsite hinverlinken, aber Achtung, die britische Regierung mag vielleicht bei der Gelegenheit gleich ein paar Daten absaugen.

Fee fi fo fum

Der Think Tank „Institute for Government“ und eine fraktionsübergreifende Gruppe von Unterhaus-Abgeordneten hat jedenfalls Boris Johnson der Desinformation der Öffentlichkeit beschuldigt, da die Kampagne seit dem Anti-“No Deal“-Unterhaus-Beschluss von letzter Woche (ich berichtete) nicht mehr den Tatsachen entspreche.

Schließlich heißt es auf der Regierungswebsite ganz klar: „The United Kingdom is leaving the EU on 31st October 2019.“

Aus der Regierungswebsite: "The UK is leaving the EU on 31st October"

GOV.UK

Das, argumentieren die Abgeordneten unter Führung der Libdem-Chefin Jo Swinson, sei „faktisch unkorrekt (indem es ein Ereignis betrifft, das nun nicht eintreffen kann)“, aber auch „in sich parteipolitisch (als es nicht die Politik der Regierung, sondern nur die Politik der konservativen Partei sein kann).“

Tweedledee dee, Tweedledee dum

Ich verstehe schon, wie die das meinen: Dem vom Unterhaus vor seiner Zwangspausierung beschlossenen Gesetz zufolge muss Boris Johnson, falls er bis Mitte Oktober keinen Deal zustande bringt, nach Brüssel gehen und brieflich um eine Verlängerung ansuchen.

Aber wie die - so wie die Leavers letztlich mit aschenbecherdicker Inselbrille ausgestatteten - Remainers dabei vergessen, ist ja noch keineswegs gesagt, dass 27 EU-Länder dem auch zustimmen werden.

Rechnung ohne Frankreich

Zumindest Frankreich hat bereits angedroht, frei nach de Gaulle von seinem Veto-Recht Gebrauch zu machen, schon überhaupt, was die vom Unterhaus angestrebte neue Drei-Monats-Frist bis Ende Jänner anlangt.

Ein „No Deal“-Brexit ist aus europäischer Perspektive also immer noch möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich. Zum ersten und vermutlich auch wieder letzten Mal empfinde ich fast sowas wie Verständnis für Johnson, der 100 Millionen Pfund in eine Info-Kampagne gesteckt hat, welche er nun wieder einstampfen soll, die unbestreitbar aber wohl ziemlich notwendig wäre, falls das Desaster zu Halloween, durch wessen Entscheidung auch immer, nun doch eintreten sollte.

Andererseits wäre der Schaden dann auch wieder nicht sooo groß, da die ans Volks verteilten Ratschläge der Regierung angesichts der vielen unbekannten Faktoren ohnehin nichtssagend bis unbrauchbar sind.

Als ich neulich auf der Autobahn zwischen London und Dover unterwegs war, fuhr ich an LED-Leuchtanzeigen vorbei, die statt der üblichen Staus und Bauarbeiten folgende, kryptische Info verbreiteten: „Freight to EU – Papers may change Nov 1 – Please check.“

Leuchttafel auf der Autobahn: "Papers may change"

Robert Rotifer

Danke, sehr hilfreich. Aber zumindest stand da „may change“, nicht „will change“.

fiddle-lee-dee fiddle-lee-dum

Eine der letzten erfolgreichen Aktionen des nach Johnsons Säuberungswelle in der konservativen Fraktion nun mehrheitlich solide gegen die Regierung stehenden Unterhauses war es, die Veröffentlichung der regierungsinternen Prognosen für ein „No Deal“-Szenario unter dem Titel Operation Yellowhammer zu erzwingen. Darin wird unter anderem vor Aufruhr auf den Straßen, schweren Engpässen bei Medikamenten- und Lebensmittelversorgung und LKW-Staus mit Wartezeiten von zwei Tagen gewarnt.

Eigentlich wurst, ob „base“ oder „worst“

In seiner ersten an die Medien geschmuggelten Fassung war dabei im Untertitel von einem „base scenario“, in der offiziell veröffentlichten Version dagegen von einer „reasonable worst assumption“, also quasi vom Super-GAU die Rede.

Aber so viel sich diverse Kommentator*innen auch zurecht im Spott über diesen plumpen Spin ergehen, in Wahrheit spielt auch das nur wenig eine Rolle, denn die kultisch Brexit-Gläubigen sind von ihren Visionen durch Englands grüne Felder tollender Einhörner sowieso nicht abzubringen.

Die öffentliche Meinung, um die es bei so einer Kampagne geht, hat sich längst so hart verkrustet, da findet die Realität kaum mehr Wege, in den aufnahmefähigen Weichbereich des Kopfinneren vorzudringen.

Trotzdem kann man auch nicht sagen, dass sich gar nichts Neues getan habe. Zum Beispiel hat ja vorgestern der Scottish Appeal Court die zwangsweise, fünfwöchige Schließung des Unterhauses für unrechtmäßig erklärt, da die Regierung die Königin bei der Anweisung dieser Sitzungspause über deren tatsächlichen Zweck – die Unterdrückung der Brexit-Debatte im Parlament – getäuscht habe.

Dieses Urteil wird nächste Woche nach Einspruch der Regierung vom Supreme Court, gemeinsam mit ähnlichen Anträgen aus England und Nordirland, verhandelt und bestätigt oder revidiert werden.

Look out, baby, cause here I come!

Was natürlich die Frage aufwirft, ob Johnson im Falle einer Bestätigung des schottischen Urteils als Premier, der die Queen belogen hat, nicht sofort zurücktreten müsste.

Wagen wir eine kleine Wette: Der Supreme Court wird so weit nicht gehen, sondern den vorläufigen Beschluss des englischen High Court von letzter Woche unterstützen, dass die Angelegenheit eine politische sei, die sich nicht auf gerichtlicher Basis klären lässt.

Der Druck, das Unterhaus wieder aufzusperren, wird deshalb dennoch nicht nachlassen, sondern das ganze verbleibende Monat über anhalten. Dafür wird unter anderem John Bercow, der Speaker, sorgen, der schon gestern in einer Rede vor versammelten Jurist*innen öffentlich schwor, dass er Boris Johnson daran hindern werde, das Gesetz zu brechen (z.B. wenn Johnson sich weigern sollte, bei der EU um eine Verlängerung der Austrittsfrist anzusuchen).

So spricht ein Speaker normalerweise natürlich nicht, aber Bercow befindet sich noch im Rausch der von allen Seiten des Hauses eingetrudelten Akklamationen (und Feindseligkeiten), nachdem er am Montag seinen Rücktritt mit Ende Oktober ankündigte. Er hat nichts mehr zu verlieren oder zu befürchten, dafür aber eine letzte Möglichkeit, sich selbst zu jener großen historischen Figur zu stilisieren, als die er sich selbst jetzt schon sieht. Soll sein, wenn’s was nützt.

Over-performing Austrians

Und bei dem ganzen Theater bin ich jetzt noch nicht einmal dazu gekommen, hier von den zunehmenden Troubles mit der Verleihung des „Settled Status“ bzw. „Pre-settled Status“ für über dreieinhalb Millionen EU-Bürger*innen zu schreiben. Ein andermal dann, Anlass wird’s sicher geben.

Immerhin, laut jüngster Statistik sind die Österreicher*innen nach den Bulgar*innen mit 59,2 Prozent die zweiteifrigsten Status-Ansucher*innen, was vielleicht was mit „unserem“ eingebauten Gehorsam gegenüber dem inneren Metternich zu tun hat. Das bringt „uns“ laut Statistik des Home Office das Prädikat „over-performing“ ein. In der Tat eine akkurate Bezeichnung für den traditionell österreichischen Umgang mit Behörden. Wenn die „Get ready“ singen, kommen wir auch gleich gesprungen. Ich selber ja eh auch.

Tweedledee dee, Tweedledee dum

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