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Saša Stanišić

Katja Sämann

Glück und Zufall der Herkunft

Die eigene Herkunft ist Zufall. Die eigene Herkunft ist Glück. Saša Stanišić Buch „Herkunft“ ist ein Glücksfall und der Favorit auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Von Zita Bereuter

Update: Der Favorit hat gewonnen - „Herkunft“ wurde am 14.10.2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Aus der Begründung der Jury:

Saša Stanišić ist ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut. Unter jedem Satz dieses Romans wartet die unverfügbare Herkunft, die gleichzeitig der Antrieb des Erzählens ist. Verfügbar wird sie nur als Fragment, als Fiktion und als Spiel mit den Möglichkeiten der Geschichte. Der Autor adelt die Leser mit seiner großen Phantasie und entlässt sie aus den Konventionen der Chronologie, des Realismus und der formalen Eindeutigkeit. „Das Zögern hat noch nie eine gute Geschichte erzählt“, lässt er seine Ich-Figur sagen. Mit viel Witz setzt er den Narrativen der Geschichtsklitterer seine eigenen Geschichten entgegen. „Herkunft“ zeichnet das Bild einer Gegenwart, die sich immer wieder neu erzählt. Ein „Selbstporträt mit Ahnen“ wird so zum Roman eines Europas der Lebenswege.

In seiner Dankesrede im Frankfurter Römer nahm Saša Stanišić vor allem Stellung zur Prämierung der Literatur von Peter Handke mit dem Nobelpreis. Er sei erschüttert, dass sowas prämiert wird. Der Preis für den österreichischen Autor habe ihm die Freude am eigenen etwas verdorben, so Stanisic, darum möge man ihm verzeihen, dass er sich öffentlich echauffiere: „Ich tu’s auch deswegen, weil ich das Glück hatte, dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt.“ Die Rede von Saša Stanišić gibt es in voller Länge hier nachzulesen.

Die eigene Herkunft ist Zufall

„Wir sind mit Jugoslawien auseinandergebrochen und haben uns nicht mehr zusammensetzen können. Was ich über Herkunft erzählen möchte, hat auch zu tun mit dieser Disparatheit, die über Jahre mitbestimmt hat, wo ich bin: so gut wie niemals dort, wo Familie ist.“ Saša Stanišić ist 14, als er mit seiner Mutter aus Jugoslawien flüchten muss und in Heidelberg ankommt. Sein Deutsch beschränkt sich auf einen Namen: „Das Einzige, was ich auf Deutsch sagen konnte, war Lothar Matthäus. Nun kamen dazu: ‚Mein Name ist‘, ‚Fluchtling‘, ‚Heidelberg‘ und ‚Šokolade‘. Die letzten beiden waren recht einfach.“

Der Jugendliche lernt sehr schnell Deutsch. „In meinem Zeugnis aus der Förderklasse steht: ‚Stanišić hat keine Mühe beim Spracherwerb. Er faßt schnell auf und wendet das Gelernte im neuen Zusammenhang sicher an. Besonderes Interesse hat er daran, merkwürdige Dinge und Fantasien zu formulieren.‘“

Dieses Interesse hat ihn zu einem der erfreulichsten gegenwärtigen deutschsprachigen Autoren gemacht. Die verschlungenen Wege, die Ereignisse und Begegnungen, die dazu geführt haben, erzählt er in „Herkunft“.

Saša Stanišić ist 1978 in Višegrad (im damaligen Jugoslawien) auf die Welt gekommen. Im Jugoslawienkrieg fliegt er mit seiner Mutter nach Heidelberg. Er studiert in Heidelberg, später am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ wurde in über 30 Sprachen übersetzt. Der Bestseller „Vor dem Fest“ wurde mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichnet. Auch der Erzählband „Fallensteller“ wurde ausgezeichnet. Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg.

Er schaut weit zurück - erzählt biografisch, aber auch fiktional und essayistisch von seinen Ahnen, dem Urgroßvater, der Flößer war, der Großtante, die Kosmonautin werden wollte, der Großmutter, die mit ihrem Pragmatismus die heimliche Herrscherin der Stadt war. Er erzählt von seiner Kindheit im ehemaligen Jugoslawien, vom stolzen Pionier und grenzenlosen Fußballfan, von der Flucht mit seiner Mutter nach Heidelberg, von seiner Sozialisation an der ARAL-Tankstelle in Heidelberg und dem späteren Studium. Vom harten Leben als Migrant.

„Ich wollte noch besser Deutsch lernen, damit die Deutschen in meiner Gegenwart sich nicht so viel Mühe geben mussten, zu verbergen, dass sie mich für dumm hielten.“

Buchcover mit chinesisem Drachen

Luchterhand Verlag

Saša Stanišić: Herkunft. Luchterhand 2019

Woran erinnert man sich?

Was ist es wert erinnert zu werden? Wie funktioniert Erinnerung? Was macht Herkunft aus? „Herkunft“, liest man da, „sind die süß-bitteren Zufälle, die uns hierhin, dorthin getragen haben.“

Und letztlich sind es immer wieder Menschen. Menschen, die ihm zuhören, ihn ernst nehmen, ihm weiterhelfen. „Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben.“

Saša Stanišić beschreibt berührend ehrlich. Etwa von der Wohnung, in der sie zu sechst in einem Zimmer schliefen und in die er niemanden einladen wollte: „Noch heute rede ich mir ein, dass es nur gute Gründe gab, keinen Besuch zu empfangen. Dass Platz und Stille fehlten, war das eine, und das begriffen die Freunde auch. Wussten sie aber auch von meiner Scham? Ich schämte mich wegen der alten Möbel, schämte mich, keine Spiele zu besitzen, keinen PC und auch kaum Musik (ein paar überspielte Kassetten, Metallica, Nirvana, Smashing Pumpkins). Ich schämte mich, dass bei uns von unterschiedlich gemusterten Tellern gegessen wurde und selten gemeinsam. Mit Messern, deren Klingen sich bogen.“

Dieses Buch erzählt scheinbar von Kleinigkeiten und schafft damit ganz Großes. Eine äußerst gelungene Melange, in der man ständig Sätze anstreichen möchte. Hinzu kommt eine fabelhafte und mystische Welt mit Drachen und Schlangen und Fantasy-Rollenspielen, deren Faszination er seiner Großmutter vermitteln möchte:

„‚Wenn wir einen Raum betreten, betreten wir den Raum nicht wirklich – beziehungsweise schon, aber in einer Wirklichkeit, die uns der Spielleiter beschreibt. Wie es in dem Raum aussieht undsoweiter.’
Großmutter schwieg.
’Es ist sehr spannend‘, sagte ich.
‚Es ist überhaupt nicht spannend‘, sagte Großmutter und fragte, ob man denn damit wenigstens Geld verdienen könne.“

Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis:

Umso gefinkelter, dass Saša Stanišić die letzten Erinnerungen an seine an Demenz erkrankte Großmutter in einem Rollenspielroman enden lässt. Das macht Erinnerungen schließlich aus – sie sind für jede und jeden anders.

Das ist das Buch unserer Zeit. Lesen. Nachdenken. Verstehen. Freuen. Lachen. Saša Stanišić macht klar: Die eigene Herkunft ist ein Zufall. Die eigene Herkunft ist Glück. Und sein Buch „Herkunft“ ist ein Glücksfall.

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