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Helena Zengel spielt Benni und brüllt

Yunus Roy Imer

Ein Kind rastet aus: „Systemsprenger“ ist ein Kino-Hit!

Alle sollten diesen Film sehen! Das fulminante Drama „Systemsprenger“ hat die Dynamik eines Actionfilms, ist das Spielfilmdebüt von Nora Fingscheidt und ein Kandidat für den Auslandsoscar. Eine Neunjährige rastet aus.

Von Maria Motter

Sie tobt. Sie schreit. Und sie packt ein Bobbycar und schleudert es direkt Richtung Erzieher, der schnell die Tür zum Hof schließt. „Keine Sorge, das ist Sicherheitsglas“, will der Erzieher einen anderen beruhigen. Doch ein Riss geht durch das Glas. Die neunjährige, niedlich aussehende Benni ist ein „Systemsprenger“: ein Fall, für den das System keine Antworten mehr hat. Ein Kind, mit dem niemand mehr klarkommt. Zu groß ist die Aggression des Mädchens und im großartigen, deutschen Spielfilm „Systemsprenger“ kommen Benni und mit ihr die Zuschauer*innen fast gar nicht zur Ruhe.

Kaum ein Actionfilm dieser Tage kann mit der Dynamik von „Systemsprenger“ mithalten. Helena Zengel, die Benni spielt, kann so schauen, ihren Mund verziehen und schlicht spielen, dass es keine alles erklärenden Dialoge braucht. „Das mit dem Gesicht, haben Sie das gelesen? Nicht anfassen. Da dreht sie völlig ab. Sie lässt nur die Mutter ins Gesicht fassen“, verweist die herzliche Betreuerin vom Jugendamt auf das Trauma.

Ein Mädchen steht auf einem Feld

kineo Film/Weydemann Bros.

Benni rennt. Und rastet aus.

37 Absagen von Wohngruppen, ein Therapiepferd, zwei Pflegemütter - das alles hatte Benni schon. Für die geschlossene Psychiatrie ist sie zu jung, die darf mit Sondergenehmigung Kinder ab 12 Jahren aufnehmen. Jetzt bekommt sie ein Neuroleptikum, das eigentlich für erwachsene Schizophrenie-Patient*innen entwickelt wurde, und einen Schulbegleiter. Der Anti-Gewalt-Trainer Micha arbeitet sonst mit erwachsenen Straftätern. „Du hast ganz schön viele Fotoalben“, stellt Micha fest. „Immer, wenn ich wo rausfliege, krieg ich eins“, sagt Benni, die nur eines will: nach Hause zu ihrer Mama.

Mit jeder Zurückweisung steigt Bennis Frustration und Gewaltbereitschaft. Die Maßnahmen werden drastischer. Benni geht durch die Hölle und kein Hilfsangebot scheint zu greifen, wenn eine Umarmung der Mutter alles wäre. Wahren die Betreuer die professionelle Distanz nicht, wird es gefährlich.

Helena Zengel als Benni und Albrecht Schuch als Micha gehen in den Wald

Yunus Roy Imer

„Systemsprenger“ ist eine Wucht und ein Meisterwerk

Benni kann man sich nicht entziehen. Von der ersten Szene an, in der Benni für ein EKG voll verkabelt auf einer Liege stillhält und tief atmet, will man wissen, wer dieses Kind ist und wie es mit ihm weitergeht. „Sieht alles gut aus, Benni“, sagt die Ärztin und die Blicke des Mädchens sprechen Bände.

Mit Benni macht man eine Achterbahnfahrt der Gefühle durch. Man verbündet sich mit ihr. Man ist verwirrt und von ihrer Aggression vor den Kopf gestoßen, man hadert und bangt und weiß ziemlich schnell nur, dass es keine Lösung sein kann, ein mehr als verhaltensauffälliges Kind, das aus jeder Einrichtung fliegt, nach Afrika auf Austausch zu schicken. Die Grenzen einer Gesellschaft führt „Systemsprenger“ jedoch nicht vor. Der Film erzählt von der universellen Sehnsucht nach Geborgenheit.

Gabriela Maria Schmeide als Frau Bafané und Helena Zengel als Benni umarmen einander innig

Yunus Roy Imer

Ein Actionfilm, wie man ihn noch nicht gesehen hat

Die Montage ist dynamisch und abrupt. Die Handkamera fängt die Ausraster und Ausreißer ein. Für kitschige, aufgesetzte Kinomomente hat Regisseurin Nora Fingscheidt nichts übrig. „Systemsprenger“ ist ihr Langfilmdebüt. Ihre Darstellung von Kindheit basiert auf einer sorgfältigen Recherche. Fachlich begleitete der Pädagoge und Professor für Intensivpädagogik Menno Baumann die Filmarbeit. In Deutschlandfunk Kultur hat er aus der Praxis erzählt. Im Film wird nicht geurteilt. Die Dynamik zwischen staatlichem System und Privatperson, zwischen Erziehern und Benni entwickelt eine Spannung, der man sich nicht entziehen kann. Die heute elfjährige und bei den Dreharbeiten zehnjährige Helene Zengel würde alle an die Wand spielen, könnte nicht auch das Erwachsenenensemble mit ihr mithalten.

„Systemsprenger“ startet am 27.9.2019 in den österreichischen Kinos. Am Dienstag, 24.9., gibt es in der FM4 Homebase ein Interview von Anna Katharina Laggner mit Nora Fingscheidt (FM4 Player).

Am Ende von „Systemsprenger" hört man Nina Simone Ain’t Got No – I Got Life“ singen und ist komplett eingenommen, überrumpelt, entsetzt und weiß zugleich: Die Geschichte ist herzergreifend, fulminant und derart konsequent erzählt, dass sie an eine fundamentale Wahrheit rührt. Die Liebe für diesen Film ist groß. Premiere hatte die auch von der tollen Schiene „Das kleine Fernsehspiel“ geförderte Produktion auf der Berlinale im Februar.

Die gebürtige Braunschweigerin Nora Fingscheidt arbeitete vor zwölf Jahren als Praktikantin bei der Berlinale und tagträumte davon, dass eines Tages das Plakat eines ihrer Filme auch dort hängen würde. Diesen Februar hat sie den Silbernen Bären für „Systemsprenger“ gewonnen. Inzwischen ist „Systemsprenger“ der deutsche Kandidat für den Auslandsoscar. Alle sollten diesen Film sehen.

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