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marc carnal

Diese Anekdoten gehören verboten

Wenn Eltern Pipi-Gschichtln erzählen, Politiker von berührenden Begegnungen berichten oder Ex-Rekruten mit Dauerläufen bei Minusgraden prahlen, sehnt man sich nach Ohrenlidern.

Eine Kolumne von Marc Carnal

Ich bin froh darüber, der Krone der Evolution anzugehören, und nicht als Bär oder Muschel geboren worden zu sein. Das Menschsein ist unterm Strich vorteilhaft, weil Tiere beispielsweise nicht Tennis spielen oder reden können. Menschen sind einfach klüger als Tiere. Wer behauptet, das sei falsch, weil Tiere keine Kriege führen oder Regenwälder abholzen, lässt außer Acht, dass sie auch keine Opern komponieren oder in den Weltraum fliegen können, russische Hunde und amerikanische Affen vorsichtig ausgenommen.

Buchcover "Die sieben Säulen des Glücks"

Milena Verlag

So sieht es nämlich aus! Die sieben Säulen des Glücks heißt das prächtige Buch, das meine schönsten FM4-Aufsätze versammelt und nächste Woche im Milena Verlag erscheint. Wer es unbedingt schon früher in Händen halten möchte, komme zur heiteren

BUCHPRÄSENTATION

im Theater Drachengasse

Donnerstag, 26. September, 20 Uhr, Eintritt frei

Ich würde mich sehr darüber freuen, das Publikum nicht durchgehend persönlich zu kennen.

“Wir” sind also zweifellos das Best-of-Evolution und der scharfe Geist ist das Beste an uns. Doch bei der körperlichen Hülle hapert es stellenweise noch.

Alleine die Augen! Wie konnte sich ein derart praktisches Sinnesorgan nur als glibberige, verletzliche Kugeln entwickeln, die nahezu ungeschützt in ihren Höhlen wohnen? Eine dicke, durchsichtige, schützende Panzerschicht wäre hier seitens der Evolution dringend zu verwirklichen.

Die Zehen! Und erst die Zehennägel! Völlig nutzlos. Die Evolution möge sie im Laufe der nächsten Generationen zugunsten von flossenartigen Gehflächen wegrationalisieren.

Der Bauch! Die ganzen hübschen Organe können mit einem Degen oder Küchenmesser beschädigt werden - warum nicht die praktischen Rippen bis zu den Knien oder wenigstens zur Hüfte fortsetzen?

Männliche Brustwarzen - weg damit! Man wird sich an die Optik gewöhnen.

Das Gebiss! Löchrige Zähne sollen wie Schnittwunden einfach mit ein bisschen Salbe wieder heilen.

Und einen willentlich steuerbaren Ohrenverschluss hätte ich gerne. Augen kann man schließen, aber Ohren? Warum muss man sich bei Störgeräuschen die Finger beziehungsweise Oropax schmutzig machen? Wieso gibt es keine Ohrenlider? Mit Ohrenlidern könnte man bei den acht unerträglichsten Formen von Anekdoten einfach weghören und an was anderes denken:

Reise-Anekdoten

Eh schön, wenn man im Urlaub die Tuareg alphabetisiert hat, fünf Monate durch Südostasien gewwooft ist oder sich auf einer spanischen FreeTek-Convention einen schönen Erinnerungs-Tripper vom Türsteher geholt hat, aber sooo wahnsinnig interessant sind Reise-Anekdoten eigentlich nie, wenn man nicht dabei war. Eine angemessene Reise-Nacherzählung sollte bei halbwegs kleiner Schrift auf eine Postkarte passen und sich nicht in elendslangen Anekdoten erschöpfen, die entweder stinkfad sind oder erfunden klingen.

Eltern-Anekdoten

Sehr gerne erzählen Eltern im Beisein von Freunden, Kollegen oder anderen Verwandten, auf Hochzeiten und Begräbnissen, zum Frühstück oder betrunken, also bei jeder sich bietenden Gelegenheit Geschichten, die sich a) vor Jahrzehnten zugetragen haben, b) den Protagonisten (Kind) bloßstellen, die sie c) schon Hunderte Male erzählt haben und die d) keine oder eine sehr zweifelhafte Pointe haben. Sie erzählen diese Anekdoten, um innerhalb von Sekunden eine extrem unangenehme Stimmung zu schaffen. Eltern-Anekdoten werden auf irgendein halbwegs passendes Stichwort rausgeballert und gehen circa so: “Kannst du dich noch erinnern, als Tante Gerti damals das Jugendamt gerufen hat, weil du so geschrien hast mit dem Vorhaut-Pilz? MEINGOTT hast du schreien können!” Kurzes, seliges Lachen.

Gerne wird in der Einleitung auch gleich die verständliche Reaktion vorweggenommen: “Jetzt schimpft er mich sicher gleich, aber das muss ich euch erzählen: Einmal zu Weihnachten, er war acht oder vielleicht neun, da hat er seine Zahnspange aufgebogen und damit seinem Papa das Trommelfell zerstochen, weil er vom Christkind die falsche Legoburg bekommen hat. Haha, KINDER!”

Theater-Anekdoten

Viele Bühnenschauspieler oder -regisseure arbeiten nicht im Theater, sondern leben dort. Deshalb verlieren sie mit der Zeit jedes Gefühl für normale Lebensentwürfe, Umgangsformen, Interessen sowie eine sozial verträgliche Dauer und Form von Geschichten. Theater-Anekdoten werden mit peinlich überprononciertem, inbrünstigem Schauspieler-Timbre vorgetragen, dauern fünf Minuten, spielen bei irgendeiner Probe für irgendein Stück vor zwanzig Jahren, bei der irgendein Kollege irgendwas Arges gemacht hat, und haben Pointen, die man nur am erwartungsvollen Blick des Vortragenden erkennt. Wie langweilig Theater-Anekdoten sind, begreift man aber erst, wenn man sich mal versucht auszumalen, ein Laie würde sie erzählen.

Wer das nicht glaubt, möge sich die folgenden Anekdoten mal aus einem anderen Mund als jenem von Otto Schenk vorstellen:

Kabarettisten-Anekdoten

Wenn ein Kabarettist auf der Bühne erzählt, dass er z.B. am Weg zum Auftritt in der U6 irgendwas beobachtet hat oder dass er gestern mit seiner Frau nach dem Eislaufen ein Kebab essen war, tut er meistens nur so! In Wirklichkeit erzählt er nämlich jeden Abend dieselben erfundenen Geschichten! Wer das nicht glauben will, soll sich im Hochsommer in Lustenau das Kabarettprogramm eines geschiedenen Vegetariers anschauen.

Wahlkampf-Anekdoten

Wahlkampf-Anekdoten sind garantiert erfunden und gehen ungefähr so: „Vielen Dank, dass Sie mich darauf ansprechen, Frau Lorenz-Dittlbacher. Gerade gestern hat mich bei einem Charity-Radrennen für blinde Bären in St. Pölten eine ältere Dame angesprochen und mir mit Tränen in den Augen erzählt, dass sie zehn Kinder geboren und siebzig Jahre ins System eingezahlt hat. Aber in Zeiten wie diesen hat sie große Angst vorm Kopftuchzwang im Altersheim und fordert ein Ende der Russland-Sanktionen. Ich habe dieser beeindruckenden Trümmerfrau versprochen, dass ihr Sparbuch sicher ist und keine Erbschaftssteuer kommt, solange wir dieses Land mitgestalten dürfen. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Das sind die Begegnungen, die mir Kraft geben in diesem Schmutzkübel-Wahlkampf.“

Bundesheer-Anekdoten

Für Zivi-Schlappschwänze wie mich ist die Testosteron-Atmo beim Bundesheer schwer nachvollziehbar. Was reizvoll daran sein soll, in einem Tarnanzug durch die Geografie zu kriechen oder sich ins Gesicht brüllen zu lassen, verstehe ich nicht. Nachdem ich nie in der Landesverteidigung tätig war, finde ich die Anekdoten ehemaliger Rekruten entweder ausgesprochen uninteressant oder verstörend. Zentrale Rollen bei diesen Geschichten spielen meist ranghohe Psychopathen, Dauerläufe bei Minusgraden, Missgeschicke mit Gewehren und Alkoholvergiftungen. Es wäre schön, mit diesem Bundesheer-Schwachsinn nicht behelligt zu werden.

Falco-Anekdoten

Man könnte sie auch Jackson- oder Mercury-Anekdoten nennen. Falco dient in diesem Fall als Stellvertreter für eine verstorbene Berühmtheit, deren posthumen Glanzes sich schamlose Epigonen und dreiste NVIPs (not very important persons) in Form erfundener Begegnungen, „legendärer“ Abende und fingierter Bonmots bemächtigen. Hätten sich die vielen Gschichterln über Falco, die zu Jubiläen und an Todestagen von Promi-Figaros und Konkubinen kolportiert werden, tatsächlich zugetragen und wären all die Dolezal-Doku-Protagonisten wirklich seine Freunde gewesen, der arme Star hätte keine ruhige Sekunde gehabt.

Sauf-Anekdoten

Dass Sebastian auf Lenas Einweihungsparty nach zehn Bier ins Aquarium geschissen hat, mag für Sebastian und/oder Lena eine schöne Erinnerung sein, keinesfalls aber für die rund acht Milliarden Menschen, die nicht eingeladen waren.

HA! ERWISCHT! Habt ihr wirklich geglaubt, ihr könnt diesen Beitrag heimlich zu Ende lesen und so tun, als hättet ihr den Hinweis auf die Buchpräsentation nicht gesehen?!

Dann eben hier noch einmal:

Buchpräsentation „Die sieben Säulen des Glücks“
Morgen, Donnerstag, 26. September, 20 Uhr
Theater Drachengasse

Buchcover "Die sieben Säulen des Glücks"

Milena Verlag

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