Oleg Senzows „Leben“: Episoden aus dem Leben eines Aktivisten
Von Ali Cem Deniz
Als sich am 21. November 2013 Hunderttausende Menschen auf dem Maidan-Platz in Kiew versammeln, wissen sie nicht, wie die Proteste das Schicksal ihres Landes für immer verändern werden. Sie wollen nur ihre Regierung loswerden. Unter ihnen ist der Filmemacher Oleg Senzow. Auch er weiß noch nicht, wie der Aufstand nicht nur sein Land, sondern auch ihn verändern wird.
Als der große Nachbar Russland infolge der Instabilität die ukrainische Krim-Halbinsel besetzt, gehört Senzow zu einer Gruppe von Aktivist*innen, die ukrainische Soldat*innen logistisch unterstützen. Am 11. Mai 2014 wird er festgenommen und nach Moskau gebracht. Der Vorwurf: Planung einer terroristischen Tat. Das Urteil: 20 Jahre Straflager.
Eine Zelle im hohen Norden
Während sein Fall zu einem der vielen Spielbälle zwischen Russland und dem Westen wird, beginnt der Filmemacher in seiner Zelle im hohen Norden Russlands, an der Grenze zur Arktis, ein kleines Büchlein mit einem großen Titel zu schreiben: „Leben“.
Ich habe mich sehr früh schon als Person wahrgenommen, so etwa mit fünf. Einmal hatte ich mir einen Splitter eingezogen und bekam ihn nicht wieder heraus. Irgendein Freund, der Name von dem Knallkopf will mir partout nicht einfallen, sagte, das war’s dann, der Splitter wandert aus dem Finger bis ins Herz, und dann bist du tot.
Der fünfjährige Senzow nimmt diese Prophezeiung ernst. Er denkt an die Schule, die er nie besuchen wird. Er denkt daran, dass er nie erwachsen werden wird. Er schließt mit allem ab und wartet auf seinen Tod.
Der Weg zum Aktivisten
Es sind solche kleinen, oft pointenlosen, fast schon banalen Geschichten, die Senzow aufgeschrieben hat. Was er schafft, ist keine literarische Meisterleistung, sondern eine ehrliche, direkte Reflexion. Senzow will herausfinden, wie er in einem russischen Gefängnis in der Nähe der Arktis gelandet ist. Welche Erlebnisse und welche eingeschlagenen Wege ihn zu der Person gemacht haben, die er letztendlich geworden ist.
„Leben“ wurde von einem Autor*innenkollektiv aus dem Russischen ins Deutsche übersetzt und ist im Verlag Voland&Quist erschienen.
Nach diesem Krankenhaus war ich ein Stück erwachsener, ein Stück anders geworden, ich hatte mich praktisch von meiner Kindheit verabschiedet.
Nicht zufällig führt Senzows skizzenhafte Autobiografie durch jene Institutionen, die uns besonders stark prägen. Familie, Schule, Krankenhaus. In Auseinandersetzungen mit Autoritäten, aber auch Freundschaften und Verwandtschaften, sucht Senzow die Spuren seiner Identität.
Eine entscheidende Station fehlt dabei: das Gefängnis. Vielleicht, weil der Filmemacher nicht zulassen will, dass seine Haftstrafe ihn und seine Ansichten prägt.
Hinter dem Titel „Leben“ versteckt sich eine schlichte persönliche Erzählung. Ein guter Startpunkt für alle, die verstehen wollen, wie die Maidan-Bewegung die Ukraine und das Leben von Menschen wie Oleg Senzow verändert hat.
APA/AFP/Anatolii STEPANOV
Das Straflager durfte Senzow Anfang September im Zuge eines Gefangenenaustauschs zwischen der Ukraine und Russland verlassen. Von nun an will er nicht nur Filme machen, sondern sich auch für andere politischen Häftlinge einsetzen.
Publiziert am 28.09.2019