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Tellin Lies

Annapurna

Sex, Lügen & Videochat

„Telling Lies“, der Quasi-Nachfolger zum tollen „Her Story“, ist ein Videolabyrinth mit vier großartigen Schauspielern.

Von Rainer Sigl

Es ist ein intimer Moment. Die hübsche junge Frau schaut direkt in die Kamera und lächelt mich an. Dann erzählt sie weiter, und mir wird klar, dass ich hier einem Videochat zusehe. Allerdings nur einer Seite davon: Was das Gegenüber der jungen Frau sagt, höre ich nicht, und die einseitige Konversation wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Zeit, noch tiefer zu graben, um der Wahrheit etwas näher zu kommen.

„Telling Lies“ ist ein Videospiel, das aussieht wie ein Film. Oder besser gesagt: wie eine ganze Menge Filmmaterial, denn was ich hier mittels Schlagworten durchsuche, ist ein riesiger Datenhaufen an Videos, der auf einem von der NSA gestohlenen Laptop liegt. Vier Hauptpersonen, drei Frauen und ein Mann, reden, verhandeln und streiten auf diesen mal kurzen, mal längeren Videoschnipseln miteinander. Wer sie sind, was sie verbindet und vor allem: wer die Wahrheit sagt, muss ich dabei selbst herausfinden. Das „Spielfeld“ ist dabei wie beim Vorgänger die Bedienungsoberfläche der Datenbank.

Detektivarbeit im Videolabyrinth

„Telling Lies“ ist der Nachfolger eines kleinen Spiels, das große Wellen geschlagen hat. „Her Story“ hat schon 2015 gezeigt, wie man Videospiele und reales Videomaterial mit echten Schauspielern auch auf unpeinliche Art und Weise unter einen Hut bringt. Auch diesmal bahne ich mir durch das Eintippen von Suchbegriffen einen Weg durch einen Riesenhaufen beschlagworteter Videos, und auch diesmal ist das eine detektivische Aufgabe, die ebenso knifflig wie faszinierend geraten ist.

Neu sind Umfang und Ambition: Waren es bei „Her Story“ nur Videoschnipsel eines einzigen Polizeiverhörs und eine einzige Schauspielerin, so sind es diesmal vier Haupt- und unzählige, kurz auftretende Nebenfiguren sowie eine Riesenmenge an unterschiedlichen Videos - vom Videochat über heimlich gefilmte Aufnahmen bis hin zu Camgirl-Sessions. Bis wir herausgefunden haben, wer hier die Unwahrheit sagt und warum, vergehen einige Stunden.

Telling Lies

Annapurna

Größer, schöner, etwas weniger originell

Wenn Videospiele das Medium Film nachmachen, geht das selten gut; wenn sie sich aber darauf besinnen, was nur in diesem Medium möglich ist, können sie sich erzählerisch zu ganz neuen Höhen aufschwingen. „Telling Lies“ ist ein narratives Labyrinth, das sich nur durch die Interaktion erschließt. Statt mir linear eine Geschichte zu erzählen, suche ich selbst nach dem roten Faden, stelle eigene Theorien auf und werde nicht selten überrascht. Klar, dass sich durch diese Offenheit im Gegensatz zum linearen Erzählen nicht immer bei jedem zwingend die geschliffensten Spannungsbögen ergeben, doch das stört nicht besonders.

Ein bisschen lästiger ist es da schon, dass die Bedienung in manchen Details etwas komfortabler sein dürfte - dass man die Clips mühsam immer wieder zum Anfang zurückspulen muss, ist eine nervige Zusatzaufgabe.

„Telling Lies“ ist für Windows, Mac und iOS erschienen.

Trotzdem: „Telling Lies“ ist ein absolut gelungenes erzählerisches Experiment mit großartigen, immer glaubwürdigen und sympathischen Schauspielern in den Hauptrollen. Im Vergleich zum Vorgänger ist es vielleicht etwas weniger originell, aber dafür weitaus riesiger und noch professioneller gemacht.

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