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Der Autor Martin Beyer trägt ein Hemd und lächelt

Marian Lenhard

Und wie schnell lässt du dich einlullen und blenden?

Die Nationalsozialisten verurteilten und ermordeten Sophie und Hans Scholl und deren Mitstreiter Christoph Probst. Aus dem Protokoll der Hinrichtung der Widerstandskämpfer*innen am 22. Februar 1943 geht nicht hervor, wer die erwähnten „Gehilfen des Henkers“ waren. Auf diesem Detail basiert der Roman „Und ich war da“ von Martin Beyer.

Von Maria Motter

Heute sind sie die bekanntesten studentischen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus. Schwarz-Weiß-Fotos von ihnen finden sich in Schulbüchern und werden gleichzeitig von Identitären auf Social Media geteilt: Die Geschwister Sophie und Hans Scholl sind 76 Jahre nach ihrem Tod jedermanns Interpretation ausgeliefert.

Briefe und Aufzeichnungen des deutschen Geschwisterpaars sind veröffentlicht worden und es gibt die detailreiche Biografie zu Sophie Scholl von der Historikerin Barbara Beys. Schlagzeilen machte zuletzt das Gespräch, das Traute Lafrenz, die letzte Überlebende der „Weißen Rose“, mit Claas Relotius geführt hat. Wie der Reporter seine Geschichten schrieb, ist inzwischen ein eigener #FallRelotius.

Als der deutsche Autor Martin Beyer beim Bachmannwettbewerb im Sommer vor laufenden Fernsehkameras erstmals aus seinem neuen Roman „Und ich war da“ las, waren nicht wenige Literaturkritiker*innen empört. Sein Text thematisiert die Hinrichtung von Christoph Probst und Hans Scholl. Vor kurzem ist der Roman erschienen und darin gibt ein Ich-Erzähler an, einer jener „Gehilfen des Scharfrichters“ gewesen zu sein, die im historischen Dokument, dem Protokoll der Hinrichtung, angeführt sind, jedoch nicht namentlich genannt werden.

Martin Beyer nennt einen dieser Mittäter August Unterseher. Dieser Unterseher ist eine erfundene Figur, wie sie in Romanen ganz gewöhnlich sind. Und doch kann es befremden, dass hier ein fiktiver Mittäter in die dokumentierte Ermordung der Widerstandskämpfer*innen hineingestellt wird. Die fiktive Lebensgeschichte, die hier dargelegt wird, läuft auf eine Beschreibung dieser Hinrichtung zu.

Ja, die Romanfigur steht im vorletzten Kapitel in einer Baracke und kann Hans Scholls Gesichtsausdruck nur schwer deuten: "... sein Gesicht veränderte sich, verwandelte sich zu Hunderten, Tausenden Gesichtern, ich hatte sie alle schon einmal gesehen, und dieses Tausendgesicht schrie nun, und ich sah den aufgerissenen Mund und hörte den Schrei, ich hatte ihn so oft schon gehört, hatte ihn herbeigeführt ..."

Unheimliche Leichtigkeit der Sprache

Das kann einem dann schon zu viel werden. Doch bis dahin versucht Martin Beyer, seine Leser*innen auf Glatteis zu führen. Martin Beyer ist promovierter Germanist und Dozent für kreatives Schreiben. Seine Hauptfigur August Unterseher breitet seinen Werdegang aus: Vom Bauernbuben, dessen Mutter bei seiner Geburt ums Leben kam und dessen Vater die Söhne fast totschlug, wenn er nicht weiter wusste, wird er zum Täter.

Beyer geht geschickt vor. Man braucht ein, zwei Lesestunden, um zu kapieren, was der Autor vorhat. Die Sprache ist von einer unheimlichen Leichtigkeit, man fliegt nahezu durch die Zeilen. Wie sehr sich Beyer die Ausdrucksweise der Kriegsgeneration angeeignet hat, ist beachtlich.

Der Roman eignet sich als Psychotest

Man könnte sich blenden lassen von der unverbindlichen Haltung, die der Hauptfigur August Unterseher hier zugeschrieben wird. Viele Stellen sind schwelgend formuliert. Mit Wehmut blickt der Ich-Erzähler zurück, denkt an Jugendfreunde, gebrochene Versprechen und entscheidende Minuten, in denen er in einer bequemen Naivität verharrte.

Eine alte Fotografie eines jungen Mannes  ist das Cover des Romans "Und ich war da"

Ullstein Verlag

„Und ich war da“ von Martin Beyer ist 2019 im Ullstein Verlag erschienen.

Wie er davon erzählt, dass ihn seine Tochter dazu ermuntert habe, das luzide Träumen zu versuchen und seine Lebenslinie darzulegen, von seiner jugendlichen Begeisterung für Vogelbeobachtungen und Naturzeichnungen berichtet - es dämmert den Leser*innen sehr bald, dass dieser Roman keine neue Erkenntnis bringen wird. Und doch sollte man vor dieser Sprache auf der Hut sein. Zu annehmbar kommt sie daher, sehr genau sollte man sie lesen.

Martin Beyer deutet Erklärungsmuster für Mitläufertum an, die Michael Haneke in seinem Spielfilm „Das weiße Band“ bereits ausgeführt hat. Schlussendlich entziehen sich Hauptfigur und Autor von „Und ich war da“ geschickt einer tiefer gehenden Auseinandersetzung. Auch das ist ein schmerzlich vertrautes Muster.

Und doch taugt der schmale Band Beyers dazu, sich zu prüfen und zu kontrollieren, wie schnell man sich von Erzählungen einlullen und wie sehr man sich von einer Person blenden lässt. Martin Beyer erklärt in einer Art Beipackzettel zum Roman, dass auch nicht zu handeln ein politischer Akt sei. Vom Mitlaufen kann dann keine Rede mehr sein.

„Freiheit“ hat Sophie Scholl auf die letzte Akte geschrieben. Nach der fiktiven Geschichte eines Täters in „Und ich war da“ will man Barbara Beys Biografie noch einmal oder auch zum ersten Mal lesen.

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