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LKW vor einem Schild gegen die innerische Grenze

Paul FAITH / AFP

ROBERT ROTIFER

Hauptsache Märtyrer

Warum Boris Johnson wissen musste, dass sein Deal für die EU, Irland und die Mehrheit Nordirlands vollkommen inakzeptabel sein würde.
Und warum er so schamlos war, ihn trotzdem auf den Tisch zu legen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Die Verkäuferin im kleinen Supermarkt und ich, wir haben einen Draht zueinander. Seit wir einmal beim Croissant-Einsacken ins Reden kamen, tauschen wir uns immer wieder über den Stand der Dinge aus. Sie kommt aus Kroatien (glaub ich - wage nicht, noch einmal zu fragen), ist aber schon genauso lange hier wie ich und hat Kinder, kann also nicht weg aus dem Land der Enttäuschungen.

Bisher spielte ich immer die Rolle des Schwarzmalers und sie die der Sorglosen, aber diesmal war sie es, die wissen wollte, wie es nun mit uns weitergehen wird. Wir sprechen immer lauter als nötig miteinander, damit die echten Brit*innen, die rund um uns ihre Einkaufskörbe füllen, auch was davon haben. Gestern war’s ein Bauarbeiter, der merklich lange in Hörweite vor dem Sandwich-Regal stehen blieb.

Weil die Zeit knapp war, wählte ich bei meiner Antwort die fatalistische Variante:

„Alles, was jetzt passiert, ist Theater. Am 1. November beginnt die Wahrheit, und niemand weiß wirklich, was dann alles über uns hereinbricht.“

„Aber vielleicht passiert es auch gar nicht...“

„Ich glaub nicht mehr dran, die haben bisher noch alles vermasselt, also werden sie es diesmal auch schaffen. Aber was mich ja am meisten wundert, ist, wie sehr sich in dieser vernetzten Zeit die Leute von den Medien und der Politik ihres Landes manipulieren lassen.“

„Ja, das liegt wohl an der Sprache. Die Leute können die europäischen Zeitungen ja nicht lesen.“

„Stimmt. Aber sie könnten ja irische Zeitungen lesen, das tun sie aber auch nicht.“

Kaum hatte ich bezahlt und war wieder zurück an meinem Schreibtisch, da kam eine Kopie von Boris Johnsons Brief an Jean-Claude Juncker per Twitter herein geflattert. Ein erster Blick darauf erfüllte alle Befürchtungen.

Was mir sofort ins Auge stach, war Punkt 4, in dem der britische Premier erklärt, die in Punkt 3 in Aussicht gestellte „all-island regulatory zone on the island of Ireland“ müsse von der „Zustimmung der davon Betroffenen abhängig“ sein („must depend on the consent of those affected by it“).

Um das zu gewährleisten, solle während der Übergangsperiode nach Inkrafttreten des erhofften, neuen Austrittsabkommens das „Northern Ireland Executive and Assembly“ dieses Arrangement absegnen und in Zukunft alle vier Jahre diese Entscheidung erneut bestätigen.

Post-koloniale Arroganz oder plumpe Täuschung

Da waren gleich vier schreiend offensichtliche Haken dran:

1) Diese „all-island regulatory zone“ würde, wenngleich mit Lücken, in etwa das erschaffen, was die Brexit-Priester*innen am ersten Backstop-Modell gerade so inakzeptabel fanden. Nämlich eine De-facto-Grenze zwischen Nordirland und dem restbritischen Markt auf der anderen Seite des irischen Meeres.

2) Johnsons Plan zufolge wäre Nordirland trotzdem Teil des britischen Zollraums. Es würde daher sehr wohl Zollkontrollen geben, wenngleich nicht an der Grenze selbst, sondern in Form von Stichproben an noch nicht festgelegten Orten in Grenznähe. Also faktisch eine zweite Grenze zusätzlich zur oben beschriebenen im irischen Meer. Das bedeutet nicht nur einen bürokratischen Albtraum für Nordirlands Wirtschaft, sondern auch einen kaum verdeckten Bruch des Karfreitagsabkommens, in dem Irland und Großbritannien sich ausdrücklich dazu verpflichten, die Grenze offen zu halten.

3) Die davon Betroffenen wären natürlich nicht nur die Nordir*innen, sondern auch die Ir*innen südlich der Grenze. Dass Johnson nicht einmal daran denkt, Irland eine Rolle in seinem regelmäßig zu verlängerndem Provisorium zuzugestehen, ist entweder ein Akt der uferlosen post-kolonialen Arroganz oder ein besonders plumper Versuch, gleichzeitig vor der heimischen Öffentlichkeit konstruktiv zu erscheinen, und sicherzustellen, dass die EU seinem Deal nie und nimmer zustimmen kann.

4) Das Northern Ireland Assembly, also das nordirische Regionalparlament in Stormont, ist seit Jänner 2017 nicht aktiv, nachdem die irisch-nationalistische Sinn Fein der protestantisch-unionistischen DUP die Kooperation („Power Sharing“) aufkündigte. Grund dafür war die Weigerung der DUP, einen Korruptionsskandal aufzuklären, in den ihre Parteichefin Arlene Foster verwickelt ist. Wie Brexit-Interessierte wenig verwundern wird, hat es die britische Regierung in den letzten zweidreiviertel Jahren nicht geschafft, diese verfahrene Situation zu bereinigen. Nordirland steht seither ohne funktionierende Provinzregierung da.

Wie also soll eine Versammlung, die nicht sitzt, eine für Nordirland, Irland und das gesamte Verhältnis des EU-Binnenmarkts zu Großbritannien maßgebliche Entscheidung treffen, geschweige denn für deren künftige Gültigkeit garantieren?

Boris Johnson hat in Aussicht gestellt, die nordirischen Fraktionen mit zusätzlichen staatlichen Fördermitteln zur Rückkehr nach Stormont zu bewegen. Aber bezeichnenderweise befragte er nur die DUP zu seinen neuen Vorschlägen, bevor er seinen Brief an Juncker schickte. So viel zu Johnsons Vorstellung von „consent“.

A propos, wir sprechen hier von einem Mann, dem gerade mehrere Journalistinnen vorwerfen, er habe sie auf unerwünschte Weise betapscht. Aber das wäre wieder eine ganz andere Geschichte, von der man im kommenden Wahlkampf sicher noch einiges hören wird.

Nordirland Proteste

APA/AFP/PAUL FAITH

Bleiben wir einstweilen beim sogenannten „consent“ der Bevölkerung von Nordirland, die beim Referendum 2016 bekanntlich mit entschiedener Mehrheit für einen Verbleib stimmte und laut Umfragen mit ähnlich großer Mehrheit den von Johnson abgelehnten Backstop befürwortet:

Die nordirische Opposition zur DUP, allen voran Sinn Fein, zeigt keinerlei Lust, auf Londons Bestechungsversuche einzugehen. Schließlich würde Johnsons „Lösung“ die DUP dank ihrer knappen Regierungsmehrheit in Nordirland quasi mit einer Veto-Macht über die „all-island regulatory zone“ ausstatten.
In anderen Worten: Arlene Foster und ihre Unionist*innen hielten den Rest der Insel gleichsam in Geiselhaft, was alle vier Jahre eine mutwillig provozierte Zerreißprobe für den Frieden in Nordirland heraufbeschwören würde.

All das konnte sich Boris Johnson natürlich schon vorher ausmalen, genauso, wie er weiß, dass der überwiegende Teil der britischen Presse (und auch der BBC), sobald der Deal einmal abgelehnt ist, programmgemäß die EU für ihre Starrsinnigkeit im Angesicht des britischen Pragmatismus verdammen und ihr die Schuld an einem No-Deal-Brexit zuschieben wird.

Gewiss, das Unterhaus hat erst vor einem Monat ein Gesetz beschlossen, wonach Boris Johnson in Abwesenheit eines erfolgreich abgeschlossenen Austrittsabkommens in Brüssel um eine Verlängerung der Brexit-Deadline ansuchen muss (ich berichtete).

Der Premierminister behauptet dennoch standhaft, Großbritannien werde die EU am 31. Oktober verlassen. Er will nicht verraten, wie ihm das gelingen soll, ohne dabei das Gesetz zu brechen. Aber was immer für ein Dreh ihm dabei vorschwebt: Einer, der nach dem verlorenen Gerichtsfall von letzter Woche gerade beschlossen hat, das Parlament demnächst gleich wieder in Zwangspause zu schicken, kennt offensichtlich weder Schamgefühl noch Respekt vor der Rechtssprechung.

Diese erneute zwischenzeitliche Ausschaltung des Parlaments erntet bislang übrigens erstaunlich wenig öffentlichen Widerspruch.

Zum einen, weil das Unterhaus derzeit ohnehin Wasser tritt: Nicht bereit, Boris Johnson mit einem Misstrauensantrag den Vorwand zur Auflösung des Parlaments zu gönnen. Und unfähig, sich auf eine von der gesamten Opposition getragene, temporäre Alternativ-Regierung zu einigen.

Zum anderen, weil es sich diesmal tatsächlich nur um die gängige Ausrufung einer neuen Parlamentssitzungsrunde unter einem neuen Regierungsprogramm drehen wird. Dieses muss die Königin verlesen („Queen’s Speech“) und zu diesem Zweck muss – ich lüge nicht – ein zeremonieller Thron herangeschafft werden, dessen Aufbau ein paar Tage in Anspruch nimmt.

Der Märtyrer und die gegen das Land spekulierten Milliarden

Am 14. Oktober, wenn die Königin tatsächlich das in Wahrheit mangels Parlamentsmehrheit völlig undurchführbare Programm der Regierung Johnson herunterleiern soll, sind’s jedenfalls nur mehr fünf Tage bis zur Deadline, die ihm das Unterhaus zum Abliefern seines Briefs in Brüssel gesetzt hat. Wenn er diese Mission – wie auch immer – sabotiert und ihn die Opposition vor Gericht zerrt, wird’s vielleicht schon zu spät sein. Doch selbst im Falle, dass das Unterhaus diesen Machtkampf rechtzeitig gewinnt, sichert der Premier sich dabei für den kommenden Wahlkampf die Rolle des sich für den Volkswillen opfernden Märtyrers.

Und die ist für Johnson persönlich wesentlich wichtiger als Deal oder No Deal, denn wenn er vom Halloween-Termin abrückt, wird ihn Nigel Farages Brexit Party zweifellos als Verräter brandmarken.

Allerdings gibt es auch noch ganz andere Theorien dazu, was hinter Johnsons Sabotage-Nummer steckt. In einem Radio-Interview erklärte seine eigene Schwester, die Journalistin Rachel Johnson, neulich, ein Grund für das Verhalten ihres Bruders könne daher kommen, dass gewisse Leute „in Erwartung eines No-Deal-Brexit Milliarden in Spekulationen gegen das Pfund oder das Land investiert haben.“

Ein Premierminister, der für den Profit seiner reichen Freund*innen das eigene Land ins Verderben reitet? Klingt nach Schauermärchen. Aber wenn ihn seine eigene Schwester für dazu fähig hält...

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