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Albumcover Ghosteen Ausschnitt

Nick Cave

Nick Cave & The Bad Seeds und das neue Album „Ghosteen“

Nur eine Woche dauerte es von der Ankündigung bis zur Veröffentlichung von „Ghosteen“, dem neuen Album von Nick Cave & The Bad Seeds. Wenige Stunden nach Veröffentlichung hier ein paar erste Überlegungen zum 17. Studioalbum des Australiers und seiner Band.

Von Christoph Sepin

„Meine Muse ist kein Pferd, und ich bin in keinem Pferderennen“, schrieb Nick Cave einmal als Begründung in den 1990er Jahren, warum er keinen Award von MTV entgegennehmen wollte. Und noch immer gibt der Australier als einer der größten existierenden Songschreiber kompromisslos sein eigenes Tempo vor. Sein kreativer Output, so scheint es, existiert unabhängig von Trends und Entwicklungen der restlichen Musikwelt.

Nach der Veröffentlichung seines höchst persönlichen, fragilen Albums „Skeleton Tree“ im Jahr 2016 gab es Cave regelmäßig und in verschiedenen Settings bei beeindruckenden Konzerten live zu sehen, auch in Österreich. Neben dem Touren veranstaltet er mittlerweile seine „Conversations with Nick Cave“ getauften Abende, einen öffentlichen Gedankenaustausch mit seinem Publikum. Auf seiner Website „The Red Hand Files“ beantwortet er währenddessen Fragen seiner Fans mit für ihn typisch pointiert verfassten Briefen, Ratschlägen und Erfahrungen aus dem eigenen Leben.

Ebendort hat Cave vergangene Woche auch überraschend seine neueste Veröffentlichung angekündigt. „Wann können wir ein neues Album erwarten?“, so die unschuldige Frage eines Fans namens Joe aus Großbritannien. „Nächste Woche“, so die Antwort. Das Album werde „Ghosteen“ heißen, ein Doppelalbum sein, und die Lieder der ersten Seite stehen wie Kinder zu den Liedern auf der zweiten Seite. Und „Ghosteen“ selbst, so Cave, sei ein „migrating spirit“, ein wandernder Geist.

Auf diese detaillierte, aber doch auch mysteriöse Ankündigung folgte eine weitere, die von Liveevents zum erstmaligen Hören der Platte: Genau um 23.00 Uhr lokaler Zeit in der Nacht von Donnerstag auf Freitag wurden mehrere Listening Parties zum Release von „Ghosteen“ in Städten wie Paris, Melbourne, Mexico City und Las Vegas abgehalten. Und dann war es da, das 17. Album von Nick Cave & The Bad Seeds.

Ghosteen Albumcover

Nick Cave

„Ghosteen“ von Nick Cave & The Bad Seeds ist auf Ghosteen Ltd erschienen.

„Nick Cave is showing us a gentler way to use the Internet“, schrieb der britische Guardian letztes Jahr über „The Red Hand Files“. Und auch der sonstige kreative Output des Musikers wirkt befreit von modernen Marketingzwängen und Hypemaschinen. Die globalen Listening Events zu „Ghosteen“ lassen eher an Fantreffen denken als an strikt durchdesignte Plattenlabelevents, Caves Auftritte in Sozialen Netzwerken sind rar und zurückhaltend, und auch der für die Albumpremiere eingerichtete Livestream online präsentierte sich einfach als vorfreudiges, aber doch geduldiges Warten auf die neue Musik und ein Austausch von Fans in den Kommentaren. Was vor einer Show von Nick Cave passiert, wenn im Hintergrund die Konzerthallenplaylist vor sich hin plätschert und sich in angeregten Plaudereien verliert, passierte hier auch online.

Lieder, die gesungen werden müssen

„Spinning Song“, so nennt sich das erste Lied auf „Ghosteen“. Ab der ersten Sekunde wird hier bereits ein reduzierter Grundgedanke in der Instrumentierung erkennbar: Die simpleren Synthesizerklänge, auf dem letzten Album „Skeleton Tree“ schon vom Bad Seed Warren Ellis mit Microkorg auf dem Schoß eingespielt, geben auch hier die ersten Takte vor. „Once there was a song, a song yearned to be sung“, sind die ersten Worte auf „Ghosteen“, im typischem Timbre von Nick Cave. „I love you“, wiederholt er im Refrain, während seine Stimme durch den Raum wandert, als ob hier einzelne Hörer und Hörerinnen angesprochen werden sollen. Cave ist ganz nah und bleibt das auch bis zu den letzten Momenten des Albums.

Die Liebe, wird schnell klar, ist ein ganz wichtiges, zentrales Thema auf „Ghosteen“. Liebe als Zeichen der Solidarität, als Wunsch für alle und von allen Menschen: „Everyone has a heart and it’s calling for something“, weiß Cave auf dem zweiten Lied „Bright Horses“ und spricht von strahlenden Pferden, „bright horses of love“. Wärmend und versöhnlich geben sich Akkorde und Melodien, hoffnungsvoll die Stimme: „My baby is coming home now.“ Auf „Waiting for You“, dem dritten Lied, erinnert Cave an ein paar seiner emotionalsten Momente, an Lieder, während denen das Publikum bei seinen Konzerten ganz leise wird: „Into My Arms“ zum Beispiel oder an den „Ship Song“.

Nick Cave

Andrew Dominick

Lieder von Nick Cave sind sorgfältig konstruierte Rückzugsorte, wirken greifbar, als hätten sie eine eigene Architektur. Auf „Ghosteen“ - zumindest der ersten Seite des Albums, wenn man das in digitalen Zeiten überhaupt noch so nennen kann - wird das mit ganz simplen Mitteln erzielt. Instrumente sind zurückgezogen und geben Cave Platz für seine Erzählungen, auf klassische Gitarren, Schlagzeug oder Ähnliches wird verzichtet. Nebelig gehen dafür elektronisch anmutende Geräuschkulissen ineinander verloren.

Wie bei seinen Liveshows fordert Cave die Hörenden auch hier auf, an ihn heranzukommen: „Come on everyone“, winkt er in „Sun Forest“ herbei, während im Hintergrund ein Chor zu singen beginnt, und gibt das Ziel vor: „To the sun, to the sun.“ In manchen Momenten wirkt er selbst überwältigt von seinen Beobachtungen. Die Stimme wird dann ganz leise und brüchig, die Worte wiederholen sich: „I love my baby and my baby loves me“, zum Beispiel, immer wieder in „Leviathan“.

„The songs on the second album are their parents“

Weniger vorsichtig und entschlossener beginnt der zweite Teil von „Ghosteen“, die Seite, auf der laut Cave die Eltern der Lieder des ersten Teils zu finden sind. Was das bedeutet, muss man, wie oft auf diesem Album, für sich selbst entscheiden.

Cave bewegt sich lyrisch zwischen autobiografisch wirkenden Momenten und märchenhaften Fabeln. Auf jeden Fall gibt es auch auf dieser Seite der Platte eine starke, stolze Eröffnungszeile: „This world is beautiful, held within its stars, I keep it in my heart.“ Und dann der Moment, wenn das große Orchester einsetzt und „Ghosteen“ aus der Behutsamkeit gehoben wird. „Here we go“, sagt Cave dazu.

Nick Caves Conversation Tour Ankündigung

Nick Cave

Drei Lieder befinden sich auf dieser zweiten Albumseite, die sich entsprechend Zeit nehmen, sich zu entwickeln und sich aufzubauen - nicht umsonst ist nur ein Trio an Tracks auf Teil zwei von „Ghosteen“. Wie Prophezeiungen wirken dann Songzeilen, wenn Cave von der Menschheit als Glühwürmchen spricht, die in einem Einmachglas gefangen sind. „There is no order here, nothing can be planned“, lautet das Statement, aber das sei in Ordnung, denn: „I am here and you are where you are.“ Das Akzeptieren, dass die Welt eben so ist, wie sie ist, trotz düsteren Basses, der sich zum Finale wiederholt. „And I’m just waiting now“, teilt Cave zum Schlusspunkt mehrmals hintereinander mit, „for peace to come“.

Dass „Ghosteen“ ohne Vorabsingle veröffentlicht wurde, dass das Album der Welt in Online- und Offline-Listening-Events präsentiert wurde, macht Sinn, nachdem man über eine Stunde mit dem Hören der Platte verbracht hat: Das ist alles ein Argument für das im Streamingzeitalter oft als überholt bezeichnete Konzept des Albums.

Jedes Lied gehört an jedes Lied, alles hat seinen Platz, und kein Element sollte aus dieser Reihe an elf Tracks entfernt werden.

„Ghosteen“ ist Liebe, Trauer, eine vorsichtige Umarmung, ein Zelebrieren des Lebens und ein Feiern der Momente zwischendrin. Momente, die oft nur wenige Sekunden dauern, werden hier ausgestreckt und in Lieder verpackt. Lieder über die Welt und ihre wundersamen Bewohner, voll Eleganz und zeitloser Schönheit. Und nach mehrmaligem Hören, nach Wochen und Monaten mit Sicherheit noch viel mehr. Bis dahin muss das alles aber zuerst noch einsickern.

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