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Ein Filmstill aus Jeremy Dellers "Putin's happy" zeigt eine Straßenszene in London, wo Brexitbefürworter und Gegner miteinander diskutieren

Mathias Völzke, Courtesy des Künstlers Jeremy Deller

Noch ist steirischer herbst und hier kommen Empfehlungen

Noch bis 13. Oktober zeigt der steirische herbst Installationen, Ausstellungen und Performances in Graz. Und auch wenn sich Ernüchterung beim Besuch des Kernprogramms einschleicht: Zu entdecken gibt es Videokunst, die auch auf Filmfestivals passt, Hörstücke für Kopfkino und aufregende Assoziationen.

Von Maria Motter

„In Graz war das Sujet auf der Titelseite einer Gratiszeitung, die fast jeder Haushalt zugestellt bekommt. Aber es hat niemanden interessiert, es war keine Rückmeldung zu bekommen“, erzählt ein Besucher des steirischen herbst und schaut auf ein Plakat des Künstlers Riccardo Giacconi. „Ja!“, steht darauf in weißer Kurrentschrift, Weiß auf Schwarz, und ein Wappen zeigt eine Geierkralle mit Flügeln in dunklem Orange. Es ist ein kopfloses, angriffslustiges Geschöpf, das der Künstler erschaffen hat. Das Plakat hängt vor und nach der Nationalratswahl auch auf einem Seiteneingang des Grazer Kunstvereins, für alle Passant*innen sichtbar.

Riccardo Giacconi hat fiktive Wappen entworfen und auch real existierende verfremdet. Einen Besucher der Ausstellung „Options“ im Grazer Kunstverein erinnert das fiktive Wappen an das Wappen der steirischen Marktgemeinde Peggau. „Das besteht auch aus einem Flügel und einer Kralle, auf rotem Hintergrund. Die Ähnlichkeit ist frappierend!“

Ein Plakat des Künstlers Riccardo Giaconni ruft dazu auf, zu wählen und zeigt fiktive Wappen, die für Begriffe wie Schuld und Volk stehen

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Was ist hier das geringere Übel? Ein Plakat Riccardo Giacconis

Der steirische herbst präsentiert Installationen, Performances und Ausstellungen. Bis 13. Oktober kann man sich mit einem Festivalpass anschauen, worauf man neugierig ist.

Riccardo Giacconi bekam von der herbst-Intendantin Ekaterina Degot den Auftrag, sich mit der sogenannten „Option“ in Südtirol auseinanderzusetzen und dazu Kunst zu schaffen. Die „Option“ stand für den Plan der Vertreter des Mussolini- und Hitler-Faschismus im Jahr 1939, nach dem sich deutschsprachige Südtiroler entscheiden mussten, entweder in Italien zu bleiben oder nach Deutschland auszuwandern. Die Maßnahme trieb einen Keil in die Gesellschaft.

Giacconi wusste nichts von der Geschichte, er recherchierte in Archiven in Bozen und Innsbruck. Aus zweifach übersetzten Briefen hat er ein sehr aufschlussreiches Hörstück zusammengesetzt und mit einer Lichtinstallation kombiniert. Ein weiteres, sehr einnehmendes Hörstück ist ein Film ohne Bilder. Im Nebenraum gibt es eine Diashow mit Details dazu. „Das ist sehr herbstlich!“, sagt ein langjähriger Besucher des steirischen herbst ganz beglückt.

Putin, Brexit und die Kunst Jeremy Dellers

Noch vor wenigen Wochen hat Jan Böhmermann im Künstlerhaus in Graz Autogramme gegeben - weil die Besucher*innen ihre Smartphones beim Einlass zur Ausstellung „Deutschland#ASNCHLUSS#Östereich“ ausnahmslos abgeben mussten. Der scharfe Denker, Satiriker und politische Quereinsteiger-Wannabe Jan Böhmermann könnte die Arbeit Eduard Freudmanns im Grazer Stadtpark, unweit des Künstlerhauses, ein Schmunzeln abringen. „ÖDUOPFER“ steht auf dieser Gegenposition, die den Sockel des Denkmals verdeckt.

Die „Gegenpositionen“ sind Kunst im öffentlichen Raum, ein Projekt vom steirischen herbst, dem Clio Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit und dem Institut für Kunst im öffentlichen Raum. Letzteres hat mit dem Transborders nur wenige Tage vor dem steirischen herbst ein 72-Stunden-„Happening“, betont kein Festival, an der Grenze zu Slowenien veranstaltet, das die wenigen Besucher*innen, die sich in den Gratis-Shuttlebus gesetzt haben, begeistert hat.

Man darf und kann nur hoffen, dass es ein weiteres Transborders in einer weiteren Gegend geben wird. Nach dem Publikumshit Böhmermann-Ausstellung ist im Künsterhaus eine nächste Ausstellung zu sehen, die Politik genau betrachtet.

Die Sprengkraft politischer Propaganda ist in Jeremy Dellers Film „Putin’s happy“ das zentrale Thema. Brexit-Befürworter*innen und entsetzte, überzeugte Europäer*innen kommen zu Wort. Noch immer kommt man aus dem Staunen über die Vorgänge in Großbritannien nicht heraus, wie bei Robert Rotifers Berichten, Betrachtungen und Analysen. Eine dringende Empfehlung, sich diese Doku anzuschauen.
Im Künstlerhaus hat man auch daran gedacht, eine Version mit deutschsprachigen Untertiteln zu zeigen und für eine weitere Videoarbeit gibt es die deutschsprachige Übersetzung als Handout. Etliche andere Arbeiten und Performances beim steirischen herbst sind nur in englischer Sprache, nicht gerade besucher*innenfreundlich.

BesucherInnen schauen Jeremy Dellers Film "Putin's Happy" im Grazer Künstlerhaus

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Der Film „Putin’s happy“ von Jeremy Deller ist im Grazer Künstlerhaus zu sehen. Natalie Brunner hat mit Jeremy Deller ein Interview geführt, das mich sehr begeistert, und sie empfiehlt dessen Musikdoku „Everybody In The Place“.

Intellektuelle Fragen, heruntergebrochen auf einen Gartenzaun

Inwieweit Politik und Kunst zusammengehen, diese Frage wirft die Intendantin Ekaterina Degot in diesem Festival auch auf. Was hat es mit politischen Geschenken im Bereich der Kunst auf sich, sollte sich die Politik überhaupt an Kunst und monumentalen Bauten beteiligen? Das verhandelt Jasmina Cibic in dem Kurzfilm „The Gift - Act I“, lässt personifizierte Künste auftreten und kommt zum Schluss: Die Grundfrage selbst sei absurd. Dass sich leider der Ton der Filme von Cibic und Deller teilweise wild überschlägt, ist der Eitelkeit der Künstler*innen geschuldet. Alle wollen in der großen Halle ausstellen, aber nicht im Keller.

Ein Sitzungssaal

Jasmina Cibic

„The Gift - Part I“ von Jasmina Cibic ist im Künstlerhaus noch bis 28. November 2019 zu sehen - die Ausstellung „Grand Hotel Abyss“ ist eine Zusammenarbeit des steirischen herbst und des Künstlerhauses.

Als Kulissen für ihren 20-minütigen Film hat Jasmina Cibic eindrucksvolle Bauten gewählt: den Palais des Nationes in Genf und die Zentrale der Kommunistischen Partei Frankreichs, die Oscar Niemeyer - angeblich ohne ein Honorar zu verlangen - Ende der 1960er Jahre geplant hat. Diesem spektakulären Gebäude in Paris hat u.a. die österreichische Künstlerin und Filmemacherin Sasha Pirker einen Film gewidmet - „The Future Will Not Be Capitalist“ heißt der Kurzfilm von 2010 und wenn der in Kreisen von Archikturliebhaber*innen gezeigt wird, sollte man auch die Gelegenheit nützen und ihn anschauen.

Es lohnt sich, eine Führung mit Verena Borecký vom Künstlerhaus zu machen. „Wenn man alle Filme anschauen will, braucht man ein bisschen über eine Stunde“, gut investierte Freizeit. Dank Verena Boreckýs Erzählung wird das Leben des bereits verstorbenen, britischen Künstlers und Dichters Ian Hamilton Finlay (u.a. auch ein Brieffreund Ernst Jandls) ganz anschaulich. So hat man noch mehr Spaß an dessen intellektueller Gewitzheit und findet Gartenzaunbretter super.

Drei Holzbretterteile mit den Aufschriften "Freiheit", "Gleichheit", "Brüderlichkeit" - eine Arbeit von Ian Hamilton Finlay

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Ian Hamilton Finlay pflegte einen Landschaftsgarten und den Witz von Poesie.

Ein Mensch im System

Im Palais Attems tritt man in einen Spiegelsaal und blickt auf eine Szene nach der Katastrophe: Man muss sowieso immer aufpassen, wo man hineintritt, und in der Installation von Oscar Murillo noch mehr.

Materialien sind so am Parkett angeordnet, dass man denkt, einen verunfallten Arbeiter am Boden liegen zu sehen. Eine Installation von Oscar Murillo im Palais Attems in Graz.

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Oscar Murillos Installation „soziale katarakte“ ist im Grazer Palais Attems zu sehen

Murillo und Cibele Cavalli Bostos sind die einzigen außereuropäischen Künstler*innen, die im Kernprogramm des steirischen herbst vertreten sind. Durch eine weitere Tür gelangt man zu einem Kurzfilm.

Der georgische Giorgi Gago Gagoshidze zeigt anhand einer persönlichen Geschichte, was alles schiefläuft in der Welt: Jahrelang arbeitet sein Vater am Bau, angestellt und damit versichert ist er nur in den seltensten Fällen. Doch als Portugal für die Fußball-Europameisterschaft 2008 ausländische Bauarbeiter beschäftigt, wird er angestellt. Bei einem Arbeitsunfall verliert der Mann seine rechte Hand samt Unterarm, heute lebt der Georgier von der Rente. Welch Ironie, die paradoxe Konstellation, die einem als Spiel einer höheren Macht erscheint.

Ein Mann nach einem Arbeitsunfall: Eine Hand fehlt ihm, der Arm ist ein Stumpf. Ein Filmstill aus dem Film "The invisible hand of my father" von Giorgi Gago Gagoshidze

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Ein kurzer Film über einen Menschen im System: „The invisible hand of my father“ vom georgischen Künstler Giorgi Gago Gagoshidze

Der Kurzfilm ist eine kluge, filmisch schön gemachte Annäherung an einen Menschen in einem System. Nur für kleine Kinder ist diese Kunst nichts, ebenso wenig wie die Performance „no apocalypse not now“ von Ariel Ashbel and friends. Der auftretende Kinderchor in der Performance kam für eine Frau mit Kleinkind zu spät, die Besucherin verließ die Vorstellung.

Performances zum Gadget-Bingo Spielen

Kein steirischer herbst ohne Kunstnebel-Stück, das scheint auch unter der Intendanz von Ekaterina Degot als ein ungeschriebenes Gesetz weiter zu bestehen. Das Gadget-Bingo für Performances gewann man beim Besuch von „no apocalypse not now“ von Ariel Efraim Ashbel ganz schnell: Nebelmaschine und Sprühregen, Bauzaun, Feuer, Karaoke-Singen, durchsichtige Tops, dann halbnackte Performerinnen, Kinderchor. Zu viel wird aufgewartet, die Darstellungen beziehen sich teilweise auf die Popkultur, und so nimmt etwa eine der Darstellerinnen kurz die Pose der Log-Lady aus Twin Peaks ein. Eine Strickleiter wird noch entrollt, aber niemand seilt sich ab oder klettert rauf.

Szene aus der Performance "no apocalypse not now": Die Darstellerinnen haben sich eine Zuflucht auf einem Teppich eingerichtet.

Mathias Völzke

Eine Szene aus der Performance „no apocalypse not now“ von Ariel Efraim Ashbel

„Ich gehe nur selten ins Theater, ich bevorzuge das Kino“, sagt Ariel Efraim Ashbel im Interview. Der israelische Theatermacher trägt ein „Hollywood“-Tattoo auf seinem rechten Unterarm. „Schau dir den neuen Tarantino an!“ Letzten Sonntag hat er durch die Ausstellung „Zwischen Tanz und Tod“ alter Gemälde im Schloss Eggenberg geführt. Richtig gute Kunst hängt dort. Das findet auch Ashbel und wählt sich als erstes Bild für seine Tour Breughels „Triumph des Todes“ von 1597 und liest davor aus Joseph Conrads Roman „Das Herz der Finsternis“.

Der Künstler Ariel Efraim Ashbel begrüßt vor dem Schloss Eggenberg mit Granatäpfeln, Dattelsirup und Wein, um auf das jüdische Neujahr anzustoßen

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Ariel Efraim Ashbel begrüßt Besucher*innen vor dem Schloss Eggenberg mit Granatäpfeln, Dattelsirup und Wein

„Das Herz der Finsternis“ im Schloss Eggenberg

Der polnisch-britische Schriftsteller und Seemann Joseph Conrad verfasste in nur zwei Monaten eine fundamentale Kritik des belgischen Kolonialismus. 1890 war er selbst an den Kongo gereist. Unter der Herrschaft des belgischen Königs König Leopold II. (1885 bis 1908) waren zehn Millionen Menschen ermordet worden, so die Einschätzung heutiger Historiker*innen.

„Wie Conrad über Kolonialismus schreibt, hat große Relevanz für Orte, an denen Reichtum und kulturelles Kapital auch heutzutage geschlagen werden. Es ist immerzu wichtig, sich zu vergegenwärtigen, was auf der anderen Seite passiert“, sagt Ariel Efraim Ashbel im Interview. Auch Passagen der Psychoanalytikerin Julia Kristevas, in denen es um Enthauptungen geht, wird er zitieren und Gebete sprechen für im Meer Ertrunkene vor Ölgemälden von Schiffen. Er sei nicht einer der Künstler, der ständig nur über sich spreche, sagt Ariel Efraim Ashbel.

Sich willkommen fühlen oder auch nicht

Über 80 Deka Drucksorten haben sich bei den herbst-Besuchen bislang angesammelt. Immer wieder wird ein „Grand Hotel Abgrund“ nach dem ungarischen Philosophen Georg Lukács herbeizitiert.

Nicht am Festival, sondern in der Buchhandlung des Vertrauens kann man „Grand Hotel Abgrund - Die Frankfurter Schule und ihre Zeit“ entdecken. Der Journalist Stuart Jeffries schreibt in dieser Gruppenbiografie verständlich über Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, deren Lebensumstände und Werke. 2016 erschienen, liegt seit kurzem die deutschsprachige Übersetzung im Verlag Klett-Cotta vor. Auch eine Empfehlung.

Die Installation "The Life And Adventures of GL" zeigt auch ein altes Röntengerät von 1910 im Grazer Literaturhaus

Mathias Völzke

Für eine, dem Leben Georg Lukács’ gewidmete Installation im Literaturhaus hat die Intendantin Ekaterina Degot mit zwei Kurator*innen Objekte arrangiert. Am meisten Eindruck hinterlässt ein Röntgenapparat von 1910, eine tolle Leihgabe aus dem Röntgenmuseum im deutschen Remscheid. „Es war auch in der Verfilmung von ‚Der Zauberberg‘ zu sehen und war einst ein sehr radioaktives Gerät“, weiß Sami Mandee.

„Die ganze Radioaktivität ist durch einen geschossen, der floreszierende Film hat die Bilder wie einen Film aufgefangen und das waren keine statischen Bilder, sondern man sah live den ganzen Korpus. Das finde ich sehr aufregend, dass man 1910, wo die Fotografie noch nicht so alt war, schon in den Körper hineinsehen konnte“, sagt Sami Mandee, der Produktionskoordinator der Ausstellung. Mehr Durchblick ist doch immer willkommen. Gerade in diesem steirischen herbst.

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