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Angel Olsen

Jagjaguwar

robert rotifer

Her Own Woman

Drei Jahre nach dem Durchbruchs-Album „My Woman“ und bloß neun Jahre nach dem zelebrierten Solipsismus ihrer ersten paar Kassetten legt Angel Olsen mit „All Mirrors“ ein breit orchestriertes Plädoyer für die große Liebe der Gemeinschaft vor.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Wenn ich dieses Album höre, muss ich unweigerlich an meine geplagte alte Festplatte denken und an all die guten Zeiten, die wir einst miteinander verbrachten. Zum Beispiel jene Zugfahrt nach London auf dem Weg zum Interview mit Angel Olsen an einem heißen Sommertag. Die Welt, die sich da in den Kopfhörern auftat, die tief in der Bakelit-Stereobuchse meines noch dampfbetriebenen, gusseisernen Laptops steckten, während draußen vorm Fenster zum Stream der Musik die postindustrielle englische Landschaft vorüberzog.

Dieses Album ist für mich nun für immer verbunden mit meinem tiefen Trennungsschmerz nach dem Tod jenes primitiven alten Datenspeichers. Verloren all die Notizen, die ich mir an jenem Tag zu diesem Album machte, aber auch die ausführlichen Credits, die mir Angel Olsens Label dazu geschickt hatte, all die Namen der bis zu sechzehn Musiker*innen, die in den einmal ausladenden, dann wieder an den Rand zur Stille reduzierten Arrangements zu hören sind, sowie die Auflistung der teils mit den Arrangeuren und Multiinstrumentalisten Ben Babbitt und (dem aus dem Universum von Amanda Palmer bekannten) Jherek Bischoff geteilten Autor*innenschaften hinter dieser monumentalen Produktion. Aber irgendwie ist das auch gut so.

Denn wie sagte Angel Olsen selbst so schön beim Interview:

As a writer and a human I’m so fucking grateful that my heart has been broken.

Das können wir alle gleich auf zwei Arten gut und richtig finden: Sowohl in Bezug auf unsere eigenen Erfahrungen als auch auf jene der Angel Olsen, haben die Serienbrüche ihres Herzens uns allen doch so viel Stoff zum Heilen der eigenen geschenkt. Dass so viele Menschen sich in ihren zu tröstlichen Liedern gemachten Verzweiflungen wiederfinden, empfindet Angel Olsen immer noch als ein kleines Wunder, dessen Weiterbestehen sie mit jeder Platte aufs Neue riskiert.

„I’m completely unashamed for once to admit that, yes, my writing comes from my life“, sagte sie, als ich ihr dann im menschenleeren Dunkel einer Bar in Shoreditch gegenübersaß, während sich draußen vor der Tür beschwipste Hipsters in der Sonne tummelten: „I just don’t care anymore. I just want my life to be important. So if this is my plateau, then that’s totally fine with me.“

Mein Beitrag zu Angel Olsens Album mit Originaltönen aus dem Interview läuft heute, Monatgabend zwischen 19 und 22 Uhr in der FM4 Homebase und anschließend im FM4 Player.

Verständlich, denn es ist ein Plateau mit spektakulärer Aussicht, auf dem Olsen uns mit diesem Album hinterlässt. Welche andere Künstlerin der letzten Jahre hat eine derart weite Reise zurückgelegt, von der akustischen Lo-Fi-Bettkanten-Poesie ihrer ersten Kassettenveröffentlichungen über den Retro-Prä-Grunge-Gestus von „Burn Your Fire For No Witness“, die darauf aufbauende Pop-Sensibilität von „My Woman“ und die einen Haken zurück zu ihren Anfängen schlagende Outtake-Compilation „Phases“ bis hin zu dieser majestätischen Kollektion aus Synths und Streichern gemalter, scheunentorbreiter Klanggemälde, die auch gut „Her Own Woman“ heißen hätte können?

Und, um die Perspektive einmal auf die Spiellänge des magnum opus selbst zu konzentrieren, welch ähnlich weite Reise von dessen Openern „Lark“ und „All Mirrors“ über das Phil-Spectoresk produzierte „Spring“ und die stampfende Electro-Goth-Emphase von „Summer“ bis hin zu den beiden elegant komponierten, gleichermaßen fragil wie unaufhaltsam dem herbstlichen Endpunkt des Dramas entgegensteuernden Balladen „Endgame“ und „Chance“?

I needed more / Needed more than love from you / I needed more / Need you to / To be with me

So banal sich das hier liest, so viel schwingt implizit mit, wenn Angel Olsen diese Zeilen nach all dem ihnen vorangegangen Bombast mit halb geöffnetem Mund beinahe a capella über verhallte Synthesizerklänge breitet, ehe die Streicher*innen, gedämpften Trompeten und Pizzicato-Celli sich von Nelson Riddle bis hinüber zu John Barry schmiegen. Es ist das universell nachvollziehbare Sentiment eines modernen Lebens, in dem wir einander aus der Entfernung mit virtuellen Herzchen und Küsschen bombardieren und in umgekehrter Proportion dazu umso mehr mit unserer ungeteilten Anwesenheit geizen.

„I don’t want it all / I’ve had enough“, singt Angel Olsen gleich darauf in „Chance“, dem Song, von dem sie immer wusste, dass er hier der letzte sein musste, über schlichte Klavierakkorde, die knappe anderthalb Minuten später mit den Worten „I’m leaving once again / Making my own plans“ in einen romantischen Walzertakt und schließlich einen unaufgelöst ambivalenten Schlussakkord münden.

Und mit diesem „genug haben“ meint sie hörbar nicht, dass es ihr jetzt reicht, sondern im Gegenteil die schiere, bereichernde Fülle all dessen, das es bis zum Ankommen auf diesem erhöhten Plateau zu fühlen und überwinden gab.

All that space in between where we stand / Could be our chance

All Mirrors Coverfoto

Jagjaguwar

Alben, die eine durchgehende Geschichte erzählen, seien bisher nie ihre Sache gewesen, erklärte Angel Olsen bei unserem Gespräch. Aber mit „All Mirrors“ sei ihr wohl genau das völlig ungeplant unterlaufen. Und ganz nebenbei habe sie dabei auch für sich selbst ein Kapitel abgeschlossen.

Es sei immer schon viel zu einfach gewesen, das „you“, von dem sie singt, an Einzelpersonen festzumachen. Aber inzwischen habe sie sich auch von den romantischen Erwartungen ihres jüngeren Ichs an eine idyllische Zukunft als verheiratete Frau mit Kindern gelöst: „I’m not plagued by it anymore.“

Auf „All Mirrors“ erweitern sich die Beziehungen, von denen sie singt, in jene zwischen ihr und ihrer „Community“ in Asheville, North Carolina: den Leuten, die bereit sind, sich mit ihr zu befassen, ohne das „Narrativ“ ihres Lebens als Musikerin und Popstar eindringen zu lassen.

Ein umso wertvolleres Geschenk, seit sie als kommerziell erfolgreiche Künstlerin durch die Welt geht, der insbesondere Musikerkolleg*innen immer öfter, wie sie sagt, „mit Dollarzeichen in den Augen“ begegnen.

If we got to know each other / How rare is that?

Der Weg bis zur fertigen Version von „All Mirrors“ verlief methodisch analog zu diesen Erkenntnissen. Olsens eigentlicher Plan war es gewesen, neben der von John Congleton ausproduzierten, fertigen Fassung noch eine Soloversion zu veröffentlichen. Also fuhr sie zu allererst, bevor sie mit irgendjemand sonst über die Platte sprach, auf die Insel Fidalgo nahe Seattle ins dort von Phil Elverum alias Mount Eerie betriebene Studio The Unknown, eine umgewidmete, ehemals katholische Kirche der örtlichen katholisch-kroatischen Einwander*innen-Gemeinde. Und dort verewigte sie ganz allein und akustisch die Urform ihrer Songs.

Dass sie nun fürs Erste darauf verzichtet hat, diese eigenbrötlerische Version mit der in Ben Babbitts und Jherek Bischoffs Wohnzimmern, dann in John Congletons Studio erarbeiteten Kollaboration konkurrieren zu lassen, macht – auf gut Denglisch gesagt – einigen Sinn.

In genau einem Jahr soll die Erstfassung, wahrscheinlich unter dem Titel „The Crying Room“, veröffentlicht werden (so heißt nämlich düstererweise der Abhörraum von The Unknown, in dem früher während des Gottesdiensts schreiende Kinder außer Hörweite abgesetzt wurden).

„We are all mirrors to each other. We often look for ourselves in others“, sagte Angel Olsen und bohrte mir dabei mit ihren Augen ein Loch in die Stirn: „You know, that’s good and everything, but it’s important to just listen and be there, and try to know someone else and be present.“

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