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Szenenbild aus "Jojo Rabbit"

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Viennale 2019: Vom Kino verschluckt werden

Ein imaginärer Hitler, durchtriebene Blumen, eine scene-stealing Hirschlederjacke: Eine vorfreudige Vorschau auf die Viennale.

Von Pia Reiser

Mein Lieblings-Nischen-Genre „amerikanisches Indiekino, das über große Strecken im Wald spielt“ - ansich ein Filmfestivalklassiker - findet man dieses Jahr auf der Viennale nicht.

Ist wahrscheinlich auch gut so, denn die Viennale ist - unter Direktorin Eva Sangiorgi vielleicht so vehement wie noch nie zuvor - ein festivalgewordener Tritt in den Hintern, sich Neuem und Unbekanntem zu stellen. Augen, Herz und Hirn mit frischen Bildern, Zugängen und Namen zu füllen, den eigenen Kinobegriff zu dehnen. Und gleich am Eröffnungsabend den Kostümfilm wiedermal entstaubt zu bewundern: Der Eröffnungsfilm „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ kommt von der Viennale-erprobten Regisseurin Céline Sciamma („Tomboy“) und die schraubt damit - wie im Vorjahr auf der Viennale Yorgos Lanthimos „The Favourite“, wenn auch in völlig anderer Tonalität - an weiblicher Repräsentation, Historienfilm-Konventionen und der Konstruktion begehrlicher Blicke herum.

Die Liebesgeschichte spielt in der rauen Landschaft von Quiberon im 18. Jahrhundert, es ist eine Annäherung zwischen zwei Frauen, die beide mit den ihnen zugedachten Rollen hadern. Die Portätmalerin, die eine junge Adelige auf Leinwand bannen soll, wird von Adèle Haenel gespielt, die auch Gast der Viennale - und der Eröffnung sein wird.

szenenbild

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„Porträt einer jungen Frau in Flammen“

Haenel spielt ebenfalls eine wichtige Rolle im neuen Film des herrlich unberechenbaren Weirdkopfes Quentin Dupieux. FM4 freut sich sehr, dessen neuen Film „Deerskin“ am 25. Oktober auf der Viennale zu präsentieren! In Dupieux „Rubber“ war ein Autoreifen die Hauptfigur, in „Deerskin“ spielt eine Hirschlederjacke eine nicht unwesentliche Rolle, sie gehört Georges (Jean Dujardin) und für ihn beginnt mit dem Tragen dieser Jacke ein Neu(er)findungsprozess.

Szenenbild "Deerskin"

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Jean Dujardin in „Deerskin“

Der Film, über den man sich wahrscheinlich den Mund fusselig reden wird, ist „Bacurau“ von Kleber Mendonça Filho und Juliano Dornelles. Während man Genrekino auf der Viennale kaum findet, kollidieren in „Bacurau“ gleich Western, Science-Fiction und Horror. In der „nahen Zukunft“ angesiedelt nimmt einen der Film mit in eine abgelegene Kleinstadt. Hier sind alle gleich, doch die gesellschaftliche Idylle wird gestört. Eine bitterböse Polit-Satire, die nicht nur dem heutigen Brasilien den Spiegel vorhält, sondern auch mit Kolonialismus und Kapitalismus abrechnet. Falls „Bacurau“ bei jemandem den Hunger auf mehr brasilianischen Film weckt, die Viennale hat da eine Kinematografie mit den Titel „Brasilien entflammt!“ vorbereitet. „Bacuaru“ ist auf jeden Fall ein unberechenbares Biest von einem Film!

FM4 wird on air und auf fm4.orf.at von der Viennale berichten. Die Homebase Spezial zur Viennale findet am 30. Oktober statt - mit unseren Lieblingsfilmen, Interviews, Publikumsbefragungen und dem Versuch, ein Filmfestival in drei Stunden Radio zu packen. Außerdem gibt es den FM4 Club am 26.10 in der Kunsthalle Wien mit Lulu Schmidt (Live), Kristian Davidek/Fuzl

Gleichermaßen biestig ist „Monos“, ein kolumbianisches Drama über jugendliche Guerillas im Amazonas-Regenwald. Nicht nur der Film, auch die Dreharbeiten spielen in einer eigenen Liga.

Auch Zombies und Geister findet man im Viennale-Programm, eingenäht in Arthaus-Werke. Bertrand Bonellos „Zombi Child“ sollte auch auf jede watch list, der Film nimmt einen mit in die Welt der Voodoo-Kulte auf Haiti und verschränkt die Erzählung aber mit einem Pariser Elite-Mädcheninternat. Und Denis Cotes „Ghost Town Anthology“ kehren in einem abgelegenen Ort (was wären Literatur und Film ohne die abgelegenen Orte!) nach einem tragischen Autounfall eines jungen Mannes die Toten zurück. Cote ist übrigens gleich mit zwei Filmen auf der Viennale vertreten, neben „Ghost Town Anthology“ findet sich auch noch „Wilcox“ im Programm, im Mittelpunkt des dialogfreien Dramas steht ein Drifter.

Wer sein Viennale-Programm überhaupt gern in Doppelpacks gestaltet, kann sich zusätzlich zum Cote-Packerl auch noch ein Willem Dafoe- („Tommasso“ und „The Lighthouse“) und ein Scarlett Johansson-Paket schnüren. Denn, Achtung, hier kommt die Popkultur: Nicht nur Noah Baumbachs Ende-einer-Ehe-Drama „Marriage Story“ hat die Viennale im Programm, sondern auch Taika Waititis verschrobenen „Jojo Rabbit“, in dem Watiti selbst den Geist von Adolf Hitler spielt und Scarlett Johansson die Mutter eines Kindes, das nicht nur überzeugter Nazi ist, sondern bei dem Hitler als imaginärer Freund überall dabei ist. Wer genau schaut, der kann sich auch zwei Filme zu einem - sort of - „Old Hollywood“-Bündel schnüren. In memoriam des kürzlich verstorbenen Viennale-Präsident Erik Pleskow wird Billy Wilders „One, Two, Three“ gezeigt, durch den James Cagney wie eine Dampfmaschine stampert - und Pleskow war Vorbild für diese Rolle. Quasi die Dekonstruktion eines Hollywood-Schauspielers ist die Dokumentation „Leuchtturm des Chaos“, darin finden sich Interview-Passagen mit Sterling Hayden aus dem Jahr 1983. Haydens glorreiche Tage sind lange vorbei, auch deswegen, weil er mitdem House Un-American Activities Committee kooperiert hat.

Szenenbild "Marriage Story"

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„Marriage Story“

In der schönen Kategorie Arthaus-Mindfuck, ich zitiere hier aus dem Katalogtext, ist Yorgos Lanthimos’ Kurzfilm „Nimic“ angesiedelt - die Hauptrolle in dem Thriller hat Matt Dillon übernommen. Von Matt Dillon ist es nur ein Gedankensprung, ein Instagram-Hashtag zu Chloë Sevigny, deren Kurzfilm „White Echo“ - fünf junge Frauen und ein Ouija-Board! - ist auch im Programm der Viennale zu finden.

Beim Rumstöbern im Viennale-Katalog verliebt man sich in manche Filme einfach wegen ihres Kurzinhalts (ich denke immer noch gern an die Beschreibung „Kernschmelze der Gefühle“): So geschehen bei mir und „Midnight Family“: Eine Familie in Mexiko City betreibt eine Laienambulanz, kein quirky indie film, sondern eine Doku: „Schwindelerregende Cinéma-verité-Nachtfahrt mit stark erhöhtem Puls durch ein vollends dysfunktionales Gesundheitssystem als kinematografischer Mikrokosmos zivilgesellschaftlicher Verwerfungen“. Shut up and take my money!

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Someone call the ambulance: „Midnight Family“

Und egal, welche Worte drumherum stehen, wenn Robert Altman herangezogen wird, dann hat man meinen Kartenkauf auch so gut wie in der Tasche: „The Climb“, ein tragikomisches Buddy Movie, klingt ein bisschen nach der Art amerikanisches Indiekino, von dem es vor ein paar Jahren noch so viel gegeben hat, dass man sich nicht vorstellen konnte es, mal zu vermissen, aber mir fehlt es. „The Climb“ und wohl auch „Booksmart“, Olivia Wildes „Superbad mit Mädchen“ wissen diese Lücke zu stopfen. Teenager-Mädchen bilden überhaupt einen kleinen, inoffiziellen Viennale-Schwerpunkt, neben „Booksmart“ drehen sich auch der feministische „teen noir“ namens „Knives and Skin“ und „Fourteen“ um junge Frauen.

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„Knives and Skin“

Viennale: 24.10-06.11.2019
VVK-Start: 19. Oktober

Der österreichische Film auf der Viennale gibt sich erstaunlich un-österreichisch: Jessica Hausner legt mit „Little Joe“ einen englisch-sprachigen Sci-Fi angehauchten Thriller vor (und Emily Beechums roter Pagenkopf ist jetzt schon die beste Frisur der Viennale, wie heißt es in „Fleabag“: Hair is everything!) und „Robolove“ nähert sich dem komplexen Thema der Entwicklung von humanoiden und androiden Robotern an. Sabine Derflinger hat mit „Die Dohnal“ ein Porträt der österreichischen Politikerin Johanna Dohnal gemacht - und „A Hidden Life“ ist zwar kein österreichischer Film, aber Terence Malick erzählt darin die noch nicht genug berühmte Geschichte des Wehrdienstverweigerers Franz Jägerstätter, den hier August Diehl spielt.

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Emily Beechum in „Little Joe“

Am besten ist wie immer, sich etwas anschauen, was einem gar nichts sagt. Noch besser: etwas anschauen, von dem man glaubt, dass man es eigentlich nicht mag. Mein Angstgegner der Viennale 2019 heißt „Heavy Metal Detox“. Ein Kurzfilm über einen Zahnarztbesuch mit dem unheilvollen Beschreibungstext: So hat man eine Behandlung beim Zahnarzt noch nie gesehen und vor allem noch nie gehört.

Wir sehen uns im Kino.

Die Viennale 2019

Die Viennale findet vom 24.10-06.11.2019 statt, der Vorverkauf startet am 19.10. FM4 wird on air und auf fm4.orf.at von der Viennale berichten. Die Homebase Spezial zur Viennale findet am 30. Oktober statt - mit unseren Lieblingsfilmen, Interviews, Publikumsbefragungen und dem Versuch, ein Filmfestival in drei Stunden Radio zu packen. Außerdem gibt es den FM4 Club am 26.10 in der Kunsthalle Wien mit Lulu Schmidt (Live), Kristian Davidek/Fuzl.

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