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Berlin bei Nacht

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Emma Braslavskys zweiter Roman zeigt eine dunkle Seite Berlins

Emma Braslavsky führt uns auf die dunkle Seite einer aufgekratzten Metropole. Ihr Roman ist Großstadtmärchen und Kriminalgeschichte und erzählt von der Radikalisierung des Individuums, von der schmalen Grenze zwischen natürlichem und künstlichem Leben und von der Allmacht der Algorithmen.

Von Gerlinde Lang

Es ist Emma Braslavskys zweiter Roman im Intelligenzbestien-Verlag Suhrkamp. In „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ beschäftigt sie sich witzig mit den Tücken des Menschseins, klar gesehen bis zur Farce, gerne in einem Nahzukunfts-Szenario. Alles in ihrem Patchwork Stil aus schwarzhumoriger Philosophiestunde, etwas hölzernen Dialogen und qualitativ stark schwankenden Gedichten. Durch die blockartig eingefügten Exkurse in Lyrik, Geschichte, Feminismus und Semiotik liest sich das Werk manchmal eher trashig. Aber trashig ist gut, trashig hat Tempo, man hoppelt mit und ist schon ganz neugierig auf das erhofft krasse Ende.

Buchcover "Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten"

Suhrkamp Verlag

„Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ ist im Suhrkamp Verlag erschienen.

“Ihr Hals hatte Altersfalten, Jahresringe, die auf Lebenserfahrung hindeuten sollten. Sie nahm die perfekte Asymmetrie ihrer Brüste wahr, die linke Brust war etwas kleiner als die rechte. Bescheidene Speckrollen legten sich um die Hüften. Das Haar roch nach Paradichlorbenzol, das auch in Mottenkugeln enthalten ist. Roberta begriff, dass sie die dressierte Natürlichkeit einer gereiften Frau verkörperte, die nicht für die Liebe bestimmt war.”

Eine Recheneinheit völlig neuen Typs

Die Heimatstadt der Autorin, Berlin, hat sich in diesem Buch ganz schön verändert. In “Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten” hält man sich für Liebesglück, Gefühle, Sex oder einen menschlich aussehenden Roboter mit künstlicher Intelligenz. Heldin Roberta aber ist eine Recheneinheit völlig neuen Typs. Äußerlich unscheinbar, ist sie Polizistin und Waffe zugleich: “Sie war eine Art Wegwerfgottheit, im Einsatz gegen die Auswirkungen menschlicher Unzulänglichkeit. Sie war das ungewollte Kind von Gewerkschaften und Job Centern.”

Roberta ist das perfekte Ein-Frau-Ermittlungsbüro. Ihre noch nicht vorhandene Identität füllt sie mit genauen Beobachtungen ihrer Umwelt.

„Roberta stützte die Arme auf den Tisch. “weißt du, warum Frauen wie Dreck behandelt werden? Weil sie sich gegenseitig nicht respektieren. Sie hacken sich lieber die Augen aus und biedern sich den Männern an.” - “Du bist keine Frau, sonst hättest du schon meinen Respekt.” Schmallippig stemmte (Vorgesetzte) Cleo Roberta ihr Tigerwesen entgegen. Das hier war ihr Gehege. Deutlich verkniff sie sich Sätze wie “Du bist doch nur eine Niggermaschine” oder “Du brauchst gar keinen Schreibtisch, du bist schon ein Desktop.”

Berliner Bestattungswesen

Ein Taucher ertrinkt. KI-Ermittlerin Roberta erhebt sich von ihrem Ladekissen und geht die Recherche an. Es war kein Mord, nein, sie soll vielmehr Angehörige finden, die das Begräbnis zahlen. Trotz Roboterbeglückung ist die Zahl der Selbsttötungen in Berlin zigfach gestiegen, die Begräbnisse der Einsamen belasten die Finanzen der Stadt.

„Derzeit bekam man für einen europäischen Leichnam durchschnittlichen Alters um die 250. 000 Euro, wenn man ihn für die medizinische Wiederverwertung auf dem internationalen Rohstoffmarkt vertickte. Europäische Leichen waren selten und das Tafelsilber des 21. Jahrhunderts. Warum sollte ein wirtschaftlich denkender Mensch 5.000 Euro für eine Erdbestattung bezahlen und damit 250.000 Euro begraben? (Dieser Logik) lag ein übersinnliches Netzwerk aus Glauben, Träumen und Ritualen zugrunde, zu dem man nur mit einem uralten Browser Zugang bekam, der Roberta nicht installiert worden war.“

Blockartig, lyrisch, feministisch und trashig - in Braslavskys Stil kann man sich auch gut eine völlig aus der Art geschlagene Tatort-Folge vorstellen! So deutsch, und hinterher weiß man viel über das Berliner Bestattungswesen.

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