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Nadia Murad sitzt im UNODC Büro und bereitet sich auf eine Rede vor den Vereinten Nationen vor.

Ryot Films

Empfehlungen für das Crossroads Festival in Graz

Perspektivenwechsel, die schockieren und beeindrucken: Ausgezeichnete und aktuelle Dokumentarfilme laufen am Crossroads Festival in Graz. Im Mittelpunkt steht u.a. die Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad, die den Terror des sogenannten IS überlebt hat.

von Maria Motter

Nach allen Filmen, die das Crossroads Festival zeigt, drängt sich der Wunsch auf, noch mehr erfahren zu wollen. Josef Obermoser kuratiert und organisiert das Festival seit Jahren und die große Gemeinsamkeit aller ausgewählten Dokumentarfilme ist, dass sie von Menschen erzählen, die handeln. Die aktivistische Komponente ist zentral.

Zu sehen sind diesmal Porträts der jungen Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad, des Sea-Shepherd-Gründers Paul Watson und einer kurdischen Freiheitskämpferin namens Arian. Ein norwegischer Kameramann, der eine Hütte in Spitzbergen sein zweites Zuhause nennt, führt das Publikum zu einer besonderen Bärendame. Zu betörenden Bildern von „Queen without land“ erklärt er konkrete Auswirkungen der Klimakrise: Nirgendwo schmilzt die Arktis so schnell wie in Spitzbergen.

Eine Eisbärin mit zwei Jungen.

Asgeir Helgestad

„Queen without land“: Eine Eisbärin rutscht dem Norweger Asgeir Helgestad neugierig entgegen.

Damit am Crossroads Festival im Forum Stadtpark in Graz von 24. Oktober bis 3. November 2019 alle möglichst viel sehen und hören können, gilt beim Eintritt: Pay as you wish.

Es geht um Menschenrechte und auch um die Rechte von Tieren, um Artenschutz und allen voran um die Klimakrise. Mit einer eigenen „Konferenz für Klimagerechtigkeit und Systemwandel“ bietet das Crossroads Festivals dieses Jahr an den Festivaltagen von 24. bis 27. Oktober tagsüber Workshops und Vorträge von lokalen und auch internationalen Aktivist*innen, darunter sind der Kapitän und Seenotretter Benedikt Funke, die nigerianische Journalistin Ugochi Oluigbo sowie der nicht unumstrittene Mitbegründer von Extinction Rebellion Roger Hallam (Update: Hallam musste absagen).

Das Crossroads Festival für Dokumentarfilme und Diskurs beginnt morgen und geht bis 3. November. Und hier kommen Empfehlungen!

“On her shoulders“ ist mehr als ein Porträt von Nadia Murad

Nadia Murad solle ihre Rede noch um eine Minute kürzen, rät eine UN-Diplomatin. 3 Minuten 20 Sekunden braucht Nadia Murad für ihre Geschichte. Sie ist eine von mehreren tausend Kindern und Frauen, die vom sogenannten Islamischen Staat entführt, vergewaltigt und weiterverkauft worden waren. Am 3. August 2014 überfielen Terroristen des sogenannten IS die letzte Enklave der Jesid*innen im Nordirak. Sexualisierte Gewalt ist ein Kriegsmittel und ein Riesengeschäft. Der sogenannte IS vergewaltigt Kinder und Frauen systematisch.

Nadia Murad erzählt von den Taten der Terrormiliz IS in ihrem Dorf nahe der Stadt Şengal. Die Terroristen ermordeten alle älteren Frauen und nahmen alle Mädchen mit, die älter als neun Jahre waren. 2000 Einwohner zählte das Dorf vor dem Angriff, von den Männern überlebten nur 15. Nadia Murad legt Zeugenschaft ab, wieder und wieder, über die Gräueltaten. Dafür erhält sie von Journalist*innen bemühte Floskeln und Taschentücher, von Politikern kleine Präsente und Beschwichtigungen. Das extreme Missverhältnis zwischen den Welten, das zeigt die Dokumentation „On her shoulders“ auf hervorragende Weise.

Nadia Murad besucht JesidInnen in einem Flüchtlingslager in Griechenland.

Ryot Films

Einen Einblick in das Leben einer Aktivistin, die am liebsten keine wäre, bekommt man dank der Doku „On her shoulders“.

„On her shoulders“ ist exzellent

„To carry the weight of the world on one’s shoulders“, diese Redewendung hat die US-amerikanische Filmemacherin Alexandria Bombach für den Titel ihrer Dokumentation einfach verkürzt. Und so hat sie auch ihren Film gestaltet: Den Lärm etwa von Flughafenlandebahnen blendet sie aus, sie konzentriert sich ganz auf Nadia Murad und schafft damit mehr als ein Porträt einer Überlebenden des Völkermords an den Jesid*innen und mehr als die Dokumentation des Alltags einer Aktivistin. Alexandria Bombach macht stets einen Schritt zurück und zeigt die Inszenierungen von Medien und Institutionen.

In wenigen Momenten blitzt eine Unbeschwertheit auf, etwa bei Wasserfällen in Kanada oder wenn Nadia Murads engste Begleiter einen Seifenblasendelfin blubbern lassen. Beim Anblick einer Marschkapelle in Ottawa, denkt ihr Begleiter laut: „Wenn das der Irak wäre …“ – „.. hätte sich jemand in die Luft gesprengt“, beschließt Nadia Murad dessen Halbsatz.

Nadia Murad bei einer Kundgebung 2016, zwei Jahre nach dem Beginn des Völkermords an den JesidInnen im Irak.

Ryot Films

Regisseurin Alexandria Brombach ist für „On her shoulders“ beim Sundance Festival 2018 als beste US-Dokumentarfilmregie ausgezeichnet worden.

Durch die Diaspora getrennt

Nadia Murad arbeitet und kämpft darum, dass die internationale Staatengemeinschaft den Jesid*innen im Irak beisteht und den Völkermord an den Jesid*innen durch Terroristen des sogenannten IS 2014 anerkennt.

In Flüchtlingslagern im Norden Griechenlands bangen Menschen, dass sie bei Asylverfahren in Europa auseinandergerissen würden. „Europa bringt zu Ende, was der sogenannte IS begonnen hat“, urteilt Luis Moreno Ocampo, den Nadia Murad öfter trifft. Der Mann war der erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, von Juni 2003 bis 2012 – Kritik an seiner Person wurde erst in den letzten Jahren laut.

Nadia Murad reist unermüdlich um die Welt, um Zeugenschaft abzulegen. Und der Film verdeutlicht den Widerspruch zwischen medialer Aufmerksamkeit und tatsächlicher Politik.

Der Verteidigungskampf junger Kurdinnen

Ein erschütterndes Zeitdokument ist „Commander Arian“ von Alba Sotorra. Das Porträt einer dreißigjährigen Kurdin führt direkt in den Abwehrkampf gegen den sogenannten Islamischen Staat. Arian hat sich einer rein weiblichen, kurdischen Einheit angeschlossen, die in Syrien gegen den Terror des sogenannten Islamischen Staats kämpft.

Filmemacherin Alba Sotorra hat Arian 2015 kennengelernt. Es gibt tausende Frauen wie Arian, die für Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie kämpfen und es mit den Terrorist*innen des sogenannten Islamischen Staats aufnahmen. Viele kamen ums Leben, Arian hat schwere Verletzungen von Schusswunden erlitten.

Während den Frauen die Rückeroberung ihrer Dörfer gelungen ist, sind sie heute vom türkischen Angriffskrieg bedroht.

"Commander Arian" zeigt das Leben einer Kämpferin der kurdischen Miliz YPG.

Alba Sotorra

„Commander Arian“ zeigt, wie Kurdinnen, die sich in YPJ-Einheiten zusammentaten, ihre Städte und Dörfer gegen den sogenannten IS zu verteidigen versuchten und Kobanê 2015 zum Teil zurückeroberten.

Perspektivenwechsel ist dringend empfohlen

Auch der deutsche Dokumentarfilm „Der zweite Anschlag“ ermöglicht einen Perspektivenwechsel. Ausschließlich Opfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland sprechen in dem Regiedebüt von Mala Reinhardt. Die Menschen berichten von den rassistischen Taten, sie erzählen von Erlebnissen während der polizeilichen Ermittlungen und sie sprechen über Traumatisierung. Formal ist die Doku streng gehalten, der Aufmerksamkeit tut das gut.

Hände halten eine Klarsichtfolie, in der das Bild eines brennendes Hauses ist. Das Bild zeigt den Brandanschlag von Mölln 1992.

Mala Reinhardt

Opfer rassistischer Gewalttaten sprechen in „Der zweite Anschlag“.

„Der erste Anschlag ist der, der in der Nacht, an diesem Tag passiert ist, von irgendwelchen Neonazis, von Rassisten, von Faschisten. Den können wir nicht mehr vermeiden, der ist schon passiert“, sagt Ibrahim Arslan, der 1992 als Bub einen Brandanschlag in Mölln überlebt hat, bei dem Angehörige getötet wurden. „Und dann gibt es den zweiten Anschlag: Das ist der Anschlag der Medien, der Gesellschaft, der Justiz. Und dieser Anschlag ist definitiv der weit schlimmere Anschlag.“

„Der zweite Anschlag“ drückt nicht auf die Tränendrüse. Umso eindringlicher sind die Berichte der Überlebenden.

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