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Disco Elysium

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„Disco Elysium“: Ein Rollenspielwunder aus Estland

„Disco Elysium“ sieht aus wie ein klassisches Rollenspiel, ist aber eines der überraschendsten und spannendsten Spiele des Jahres - mindestens.

Von Rainer Sigl

Es gibt Alkoholräusche, die sind so grauenhaft, dass man sich wünscht, nicht mehr da zu sein. Genau so ein legendärer Kater steht ganz am Anfang des Rollenspiels „Disco Elysium“. In dem erwache ich halbnackt auf dem Boden meines verwüsteten Hotelzimmers. Wer ich bin und was ich hier soll, habe ich vergessen.

Ein Blick in den Spiegel sagt mir aber das Wichtigste: Ich bin ein hoffnungsloser Fall - ein alter, versoffener und von Exzessen gebeutelter Versager. Außerdem, so erfahre ich schnell, bin ich ein Polizist und soll einen Lynchmord in einer zerfallenen Hafenstadt am Rand einer Arbeiterrevolution aufklären. Zuallererst heißt es aber einmal, Schuhe und Dienstmarke zu suchen und mich in einer seltsamen Steampunk-Welt zurechtzufinden, die atmosphärisch vage an eine fiktive französische Überseekolonie Mitte des 20. Jahrhunderts erinnert.

Apocalypse Cop and the infinite sadness

Auf den ersten Blick sieht „Disco Elysium“ aus wie die klassischen Rollenspiele nach Art von „Baldur’s Gate“, „Planescape Torment“ oder die ersten beiden „Fallouts“. Aus der isometrischen Draufsicht steuere ich meinen Antihelden und führe lange Konversationen mit einer Vielzahl an NPCs, in denen ich aus mehreren Antworten wählen darf. Im Unterschied zu den klassischen Rollenspielen gibt es hier aber gar keinen Kampf gegen irgendwelche Monster, sondern die komplexe Geschichte steht im Vordergrund. Schnell wird klar, dass der Mord mit den streikenden Arbeitern und den politischen Verhältnissen zu tun hat, und dass „Disco Elysium“ das mit dem Spielen einer Rolle etwas anders anlegt als andere Genrevertreter.

Charakterwerte, Tabellen und Fertigkeitsbäume gibt es in fast jedem Rollenspiel, doch hier, im Debütspiel eines 20-köpfigen estnischen Künstlerkollektivs (!), kommt diesen dürren Statistiken aufregend große Bedeutung zu - und man bemerkt, dass sich die Macher hier erfolgreich Mühe gegeben haben, die narrativen Möglichkeiten analoger, also klassisch menschen- und würfelbasierter Rollenspielrunden ins Digitale zu übersetzen. Ganze 24 beliebig steigerbare „Talente“ hat mein Held, von simplen wie „Beweglichkeit“ oder „Schmerzgrenze“ bis hin zu obskureren, die sein Innenleben betreffen: Wer einen hohen „Drama“-Wert hat, spitzt seine Konversationen und Entscheidungsmöglichkeiten gern atemberaubend zu, „Shivers“ beschreibt die Fähigkeit, das Ohr am von allen Noir-Thrillern bekannten Puls der Großstadt zu haben und das nicht zufällig nach David Lynchs Film benannte Talent „Inland Empire“ beschreibt eine intuitive Affinität für absurde, aber goldrichtige Schlussfolgerungen.

Disco Elysium

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Einmal ist keinmal

Diese Talente - zumindest die jeweils dominanten - melden sich regelmäßig in ausführlichen inneren Monologen zu Wort und sorgen dafür, dass sich das Spiel je nach Spezialisierung gründlich anders spielt: Ob ich als rassistischer Haudrauf, arroganter Intelligenzbolzen oder aber neurotisches Wrack durch die Geschichte wanke, macht einen gewaltigen Unterschied. Auch wenn die Story, das klassische „Whodunnit“ und viele Nebenmissionen fix vorgegeben sind, unterscheiden sich die Zugänge, Lösungs- und Versagensmöglichkeiten dadurch grundlegend.

Dank fantastisch geschriebener Texte, grimmigem Humor und großer spielerischer Freiheit folgt man diesem Polizeiabenteuer mit offenem Mund an einen der vielen möglichen Endpunkte und beginnt mit großer Sicherheit, nach beachtlichen 30 bis 40 Spielstunden, ein weiteres Mal von vorn, um diese Welt nochmal mit anderen Augen zu sehen.

„Disco Elysium“, erschienen für Windows.

Wer nicht mit Englisch auf Kriegsfuß steht, darf dieses Ausnahmespiel nicht verpassen - unglaublich hübsch und gut vertont ist es außerdem. „Disco Elysium“ hebt mit seinem cleveren Rückgriff auf viel zu lange unter Videospielkonventionen verschüttete Pen&Paper-Mechaniken das Rollenspielgenre auf ein narratives Niveau, das man so kaum zuvor jemals gesehen hat. Dadurch ist es schon jetzt ein Anwärter auf das Spiel des Jahres.

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