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Proteste in Chile

APA/AFP/Pedro UGARTE

„Es ist erschreckend, Panzer fahren durch die Stadt“

Chile erlebt gewaltsame Proteste, wie es sie in den fast 30 Jahren Demokratie nicht gegeben hat. Panzer, Straßenschlachten, Plünderungen, tausende Soldaten, 15 Tote. Ein junger Demonstrant erzählt.

Von Gersin Livia Paya

Eigentlich gilt Chile als ein demokratisches Vorzeigeland inmitten Südamerikas. Es hatte den Ruf einer stabilen Demokratie mit Wohlstand, auf einem Kontinent, auf dem Wohlstand Mangelware ist. Doch die Schere zwischen Arm und Reich ist enorm. Chile weist eine der höchsten wirtschaftlichen Ungleichheiten in den Industrieländern auf.

Letzte Woche hat die Erhöhung der Ticket-Preise für die U-Bahn in der Hauptstadt Santiago zu Ausschreitungen geführt, die sich dann auf das ganze Land ausgebreitet haben. Die Ungleichheit im Land ist zu gravierend, die Bevölkerung wehrt sich. Es kam zu Demonstrationen und Straßenschlachten. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen und in weiten Teilen des Landes eine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Das letzte Wochenende war geprägt von gewaltsamen Protesten, die Zahl der Todesopfer hat sich auf 15 erhöht. Der Präsident Sebastian Pinera spricht von einem „Krieg“ und schickt Soldaten und Panzer auf die Straßen.

Demonstrationen in der Hauptstadt Santiago de Chile

Emile Straub

Der chilenische Präsident Sebastian Pinera hat mittlerweile auf die Proteste Bevölkerung reagiert und verspricht Reformen, wohl in der Hoffnung, damit den Protesten in den kommenden Stunden und Tagen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

In der Hauptstadt Santiago lebt der 22-jährige Architekturstudent Martin Rojas. Beim Demonstrieren wurde er mit einem Gummigeschoss angeschossen. Wir haben Martin via Skype erreicht.

Wie geht es dir, bist du stabil?

Mir geht es soweit gut. Ich habe Schmerzen, aber die sind nicht so groß wie meine Wut. Ich bin gerade zu Hause und sammle Energie für weitere Proteste. Und es war ein Gummigeschoss, ich habe eine tiefe Wunde aber bin stabil. In meinem Fall war es keine echte Kugel, aber in vielen anderen Fällen leider schon. Sie schießen mit echten Waffen, es gibt schon mehrere Tote.

Dmeonstrationen in Chile

Emile Straub

Wie ist es zu deiner Verletzung gekommen?

Ich bin mit meiner Freundin gegen Mittag zum ‚Plaza Italia‘, dem Hauptplatz von Santiago gegangen - um zu demonstrieren. Wir waren ca. 40-50, hauptsächlich Kinder und ältere Menschen und haben einfach nur Lärm gemacht, mit Holzstöcken auf Töpfe getrommelt. Das ist die typische Form des Protestes hier in Chile, sehr friedlich und passiv. Plötzlich hat uns eine größere Gruppe von Soldaten umzingelt und Tränengas-Bomben in die Menge geschossen. Wir konnten nichts mehr sehen und sind einfach in alle Richtungen gelaufen. Ich hörte Schüsse, und im nächsten Moment spürte ich einen Schmerz im Bein und fiel zu Boden. Das war wirklich beängstigend. Meine Freundin zog mich in ein Yoga-Studio hinein, in dem wir uns versteckten. Ich habe gesehen wie Soldaten minutenlang auf Jugendliche mit Stöcken schlagen, bis sie sie verhaftet haben. Einfach vor unseren Augen.

Von hier aus beobachtet ist Chile ein Vorzeigeland Südamerikas, vor allem jetzt - 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur. Plötzlich entsteht ein Ausnahmezustand, weil die Ticketpreise für die U-Bahnen teurer wurden. Da geht es um viel mehr als um die Tickets, richtig? Warum gehst du protestieren?

Ja natürlich. Alles hat damit angefangen, dass die Tickets teurer wurden. Ein paar Studierende haben sich geweigert überhaupt noch Tickets zu kaufen. Dann haben auch viele älteren Menschen realisiert was passiert. Ein Chaos ist entstanden und U-Bahnstation wurden angezündet. Dann gingen im ganzen Land Menschen für faire Löhne, höhere Pension, ein besseres Gesundheitssystem und eine bessere Ausbildung auf die Straße. Es ist unglaublich, weil es gehen nicht nur eine arme Schicht demonstrieren, sondern auch die Mittelschicht und die Reichen. Auch weil wir vor einem Monat erfahren haben, dass unser Präsident Steuern hinterzogen hat. Warum müssen wir Steuern zahlen und Politiker nicht? Obwohl sie ein perfektes Leben, Gesundheitssystem und Ausbildung genießen. Also unsere ganze aufgestaute Wut ist nun ausgebrochen.

Das mittlere Einkommen ist in Chile sehr niedrig, die Pension ist nicht wirklich hoch. Darf ich dich fragen, wie ist deine Situation?

Mir geht es ganz gut, ich bin Teil des Mittelstandes. Wir haben eine sehr gute Situation, im Vergleich zur Mehrheit der Bevölkerung. Ich bin Student und meine Ausbildung kostet ungefähr 700 Euro im Monat. Das durchschnittliche Einkommen in Chile liegt bei etwa 500 Euro im Monat. Wenn man also ein Kind auf die Uni schickt, hat man nicht genug Geld für Essen oder für eine gute Versicherung. Es ist unfair.

Proteste in Chile

APA/AFP/Pedro UGARTE

Momentan herrscht nachts eine Ausgangsperre, der öffentliche Nahverkehr ist eingestellt. Kannst du mir deine momentane Lebenssituation und Möglichkeiten beschreiben?

Die Universität aber auch fast alle Firmen und Geschäfte haben geschlossen, vor allem weil wir uns nicht fortbewegen können. Die Krankenhäuser verteilen gratis Medizin für Verwundete. Supermärkte sind geschlossen, wir sind auf kleine Lebensmittelgeschäfte angewiesen. Die Bevölkerung hält zusammen. Die Situation ist wirklich erschreckend. Helikopter fliegen den ganzen Tag sehr tief durch die Stadt, überall kannst du Proteste hören, Menschen die auf Töpfe schlagen. Auf jeder Straße sind Soldaten und Polizisten. Panzer fahren durch die Stadt. Natürlich gibt es auch Plünderungen aber die meisten zeigen einfach nur ihre Unzufriedenheit, es ist genug.

Die Demonstrationen weiten sich auf das ganze Land aus. Kriegst du davon etwas in den chilenischen Medien mit?

Sie zeigen hier nur den Vandalismus, nicht den passiven Protest. Natürlich zeigen sie keine Soldaten die schießen. Zur Zeit sehen wir nur, was die Regierung uns zeigen möchte. Wir protestieren auch dagegen, gegen Fake News. Aber es ist wahr, die Proteste sind im ganzen Land. Wir müssen aber zeigen, mithilfe der westlichen Medien, dass wir Demonstrierenden nicht die Bösen sind, wir wollen einfach ein besseres Leben für uns alle.

Wie wird es weitergehen?

Wir werden solange weiter protestieren, bis es Lösungen gibt. Wir können einfach nicht tolerieren, dass die Armee auf den Straßen ist, wir leben in einem demokratischen Land, dürfen nachts nicht auf die Straßen und werden angeschossen? Das können wir nicht einfach hinnehmen, dass ist zu absurd.

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