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Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

FM4 Im Viertel

Die Lausbubengeschichten des Voodoo Jürgens

FM4 Im Viertel #7: Bierbänkelsänger Voodoo Jürgens kehrt zurück in seine Heimatstadt Tulln. Wir besuchen die Plätze und Geschichten hinter den Zeilen seines Liedes „Tulln“. Beim Flanieren verrät der Wahlwiener, warum er aus Tulln wegmusste, wieso ihn seine Tagesmutter rausgeworfen hat und ob er auch privat der Strizzi und Strawanzer aus seinen Liedern ist.

Von Florian Wörgötter

Voodoo Jürgens zündet sich die zehnte Zigarette an und tuned seine verstimmte Akustikgitarre. Gleich singt er auf einer Parkbank im Tullner Stadtpark sein Hassliebeslied „Tulln“. Die Nummer vom Debütalbum „Ansa Woar“ (2016) resümiert seine ersten zwanzig Jahre in der Bezirkshauptstadt Tulln an der Donau. Hier ist er geboren, von hier ist er davongerannt.

Die lyrisch ergreifende Nostalgie gräbt sich tief unter die Gänsehaut, wenn Voodoo vom Glasscherbenviertel singt, von der weinenden Mutter beim Elternsprechtag, vom Vater im Gefängnis, von den Heidingers und Heischneiders, die hinter dem Rücken über einen reden.

Heute, wenige Tage, bevor Voodoo Jürgens, 36, sein zweites Album „S’Klane Glücksspiel“ veröffentlicht (Lotterlabel), gehen wir seinen autobiografischen Zeilen auf den Grund und besuchen die Orte, die Voodoo zu dem machten, was er heute ist: einem Ausnahmekünstler der österreichischen Popmusik, der die Geschichten der Außenseiter glaubwürdig erzählt wie kaum ein anderer.

FM4 Im Viertel: Eine Reportagereihe

In der Radioreihe FM4 Im Viertel spaziert Florian Wörgötter mit österreichischen Musiker*innen durch ihr Wohnviertel. Beim Flanieren durch spannende Gegenden erfahren wir, wie die Künstler*innen leben, wie ihr Grätzl klingt und wie sich dieser Sound in ihrer Musik wiederfindet.

Geboren und davong’rennt

Der Wahl-Wiener und ich reisen mit dem Zug an. Eine Tourismus-Werbetafel am frisch sanierten Bahnhof (Umbaukosten: 42 Mio Euro) schildert, was in Tulln alles möglich ist: Gartenmesse, Römerpfad, Haustiermesse, Auenbootsfahrt, Egon Schiele zum Quadrat. „Wahrscheinlich alles uninteressant“, meint Voodoo. „Die haben die Stadt in den letzten zehn Jahren aufgeputzt und auf Tourismus getrimmt. Mit dem Tulln, in dem ich aufgewachsen bin, hat das alles nichts mehr zu tun.“ Ein Sinnbild: Im einstigen Bahnhofsrestaurant, wo sich die lokale Tranklerszene ihre Kopfschmerzen holte, verkauft heute eine Apotheke ihr Aspirin.

„Der Sound von Tulln: Ein plärrender Kinderchor, ein besoffener Fußballverein, begleitet von Akustikgitarre, Kirchenorgel und einer Eisenbahn, die drüberfährt“

Man spürt sofort die Distanz zwischen Voodoo und seinem Heimatort, den er nach seiner Zuckerbäckerlehre fluchtartig in Richtung Wien verlassen hat. Damals sei Tulln eine „spießige Kleinstadt“ gewesen, in der man als Jugendlicher auch auffällt, ohne rebellisch zu sein. Und Voodoo ist aufgefallen – als Skater, als Musiker, mit einer Flasche Saurer Apfel im Stadtpark.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Auch heute noch sticht seine Präsenz am Hauptplatz heraus – sein Puffbruderschnauzer, der schwarze Ledermantel und die rote Gitarrentasche. Auch der geschneckelte Pferdewetten-Vokuhila kann seinen Schalk im Nacken nicht verbergen. Doch am grellsten leuchten seine dunkelgrauen bis hellschwarzen Lieder: Diese vereinen die Wiener Dialekt-Tradition eines Kurt Sowinetz und die Figurenzeichnung eines Helmut Qualtingers mit dem dreckigen Sound von Tom Waits und der Verletzlichkeit von Tocotronic.

Eierspeisbauten und Pummerslucken

Am Egon Schiele Weg erheben sich die weiß-dottergelben „Eierspeisbauten“. In einem dieser Hochhäuser verbrachte der Volksschüler Voodoo viel Zeit bei seiner Tagesmutter Monika. Ihre Vorgängerin hatte ihn „Problemkind“ genannt und rausgeworfen. „Sie hat alle anderen Tagesmütter vor mir gewarnt. Dabei war ich eh ganz a Lieber“. Doch Monika sah genau darin die Herausforderung und kümmerte sich um Voodoo. Sein Fazit: „War eh a schene Zeit. Danke Monika!“

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Auf dem Räuberweg packt Voodoo die ersten Lausbubeng’schichten seiner Kindheit aus: Als er von der gefürchteten „Pummerslucken“, einer gruftigen Eisenbahnunterführung, wo sich einst die Kinderverzahrer versteckt haben sollen, die Passanten mit Jumbo-Rolladen bewarf; wie er mit zwei Freunden in der Schlecker-Trafik seines Vertrauens ein Zippo aus der Vitrine fladerte, es aber zurückbrachte, weil der Trafikant ihnen die Chance zur Resozialisierung bot; und als er ein Signal setzen wollte und die Bahnhofsgarage mit einem Graffito schmückte: „Tulln ist tot“.

Wenn Voodoo seine Anekdoten erzählt, blitzen aus seinen stechend blauen Augen der Schelm und gleichzeitig die Wehmut. Diese spitzbübische Trübseligkeit kennzeichnet auch den Charakter seiner Musik.

Heite grob ma Tote aus

Seinen Zivildienst absolvierte Voodoo beim Roten Kreuz. Die prägendste Erinnerung: „Ich habe zwei Menschen reanimiert“, sagt Voodoo noch immer etwas geschockt, dass diese Extremsituation ausgerechnet ihm passierte. „Schon arg, wenn es plötzlich um alles geht. Dann haben wir die Sauerstoffmasken zusammengebaut und den Typen wieder ang’startet“.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Auch im Song „Tulln" schildert eine Episode das tragische Schicksal seiner Sommerliebe Nicki, die bei einem tödlichen Autounfall mit einem betrunkenen Fahrer verunglückt ist. „Leider eine wahre Geschichte. So schnö kann’s gehen“.

Voodoo gesteht, dass ihn das Sterben auf eine morbide Weise begeistert. Schon als Kind sammelt er Knochen, und er findet die ewige Leere nach dem Ableben ebenso faszinierend wie die Angst davor. Deshalb kann er auch mit dem versprochenen Happy End diverser Religionen nichts anfangen. Und doch war es bloß ein Zufall (oder Fügung?), dass ihn sein erster Job in Wien als Gärtner auf den Friedhof führte.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Randnotiz: Der Kettenraucher („maximal zwei Packerl am Tag“) unterzeichnet ausgerechnet am Tullner Friedhof eine Petition gegen das absolute Rauchverbot in Lokalen. Nicht contra Nichtraucherschutz, sondern pro persönliche Freiheit, wie er meint.

A Sackl Chips und zwa Liter Eistee

Als wir vor Voodoos Volksschule im Ortskern ankommen, öffnet sich vor uns ein Krater, der von Bauarbeitern ausgemessen wird. „De hom mei Volksschui abgerissen“, zeigt sich Voodoo überrascht. Tatsächlich wurde die Volksschule ums Eck neu angebaut und – wie so vieles im neuen Jahrtausend – Egon Schiele gewidmet.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Seine Schulzeit beschreibt Voodoo als qualvolle Jahre. „Ich war eine Krätzen, die keine Hausübungen gemacht hat.“ Wirklich gut war er nirgends, aber das Geschichten schreiben lag ihm bereits damals am nächsten. Allerdings wären seine Erfolgserlebnisse als „Legastheniker“ rar gewesen, wie er meint.

Voodoo erzählt vom „kleinen, bladen Lehrer“, der seine Schüler verarschte, über dessen Scherze aber alle lachten, um nicht selbst das nächste Opfer zu werden; vom ersten Kebab beim ersten Kebab-Türken nebenan und von der Mutprobe, wer den größeren Löffel Chili schlucken kann ohne abzubrennen. Auf die gute alte Zeit gönnt sich Voodoo dort einen Kebab mit Rindfleisch – diesmal ohne Extralöffel.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Auch die Musikschule und das Gitarrenspiel hat Voodoo verweigert – zumindest solange seine Mutter, selber Gitarristin, ihn dazu motivieren wollte. Irgendwann aber schnappte er sich heimlich ihre Klampfen und tüftelte hinter ihrem Rücken „mühsamst" an den ersten Akkorden. „Es wäre schneller gegangen, hätte mir jemand ein paar Griffe gezeigt“, lacht Voodoo. „Doch ich konnte mich nur schwer konzentrieren, wenn mir jemand was erklären wollte. Wenn ich aber selbst etwas machte, wurde ich ehrgeizig und probierte es solange, bis es gelingt.“

Strizzi und Strawanzer

An der Litfasssäule vor der Kirche hängt ein Plakat mit halbnackten Männerkörpern: Wrestling im Tullner Einkaufszentrum. „14 Wrestler, ein Damenkampf und ein Royal Rumble. Dafür würde ich sogar nach Tulln fahren“, sagt Voodoo. Als Kind war er selbst ein Fan der World Wrestling Federation, von den Catchern Ultimate Warrior und dem British Bulldog, ihren schrill gezeichneten Charakteren und dem Storytelling, das die athletischen Kämpfe nahezu übertrumpft.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Doch inwieweit ist Voodoo Jürgens eigentlich selbst eine gut geschriebene Kunstfigur? Oder ist David Öllerer, wie Voodoo bürgerlich heißt, tatsächlich der Strizzi und Strawanzer, der sein Image vorgibt zu sein? „Ich spiele nichts in meinen Songs. Manches ist überspitzt, aber alles basiert auf Erfahrungen.“

Ob er sich auch in der Welt des Rotlichts, der Glücksspieler und der Trankler bewegt? „Heute nicht mehr, doch in den Zwanzigern hat mich dieses Milieu sehr interessiert. Mein Vater ist ein bisserl aus diesem Eck gekommen, daher hat es sich vertraut angefühlt.“ Mit dem Wort Strizzi kann er sich anfreunden, wenn es ihn als Lauser beschreibt, nicht aber als Zuhälter. Denn mit dem Rotlicht habe er nichts zu tun, auch wenn ihn die – meist tragischen – Geschichten interessieren.

Außenseiterreport

Die Figuren in seinen Songs fristen ihr Dasein am gesellschaftlichen Rand: Glücksspieler, Alimenteschuldner, Preisboxer, Strizzis. Inwieweit ist dieses Ausßenseitertum auch ein zentrales Thema seines Lebens? „Beschäftigt mich schon. Ich komme aus keiner g’stopften Familie und weiß wie es ist, wenn man sich mit sehr wenig Kohle drüberhanteln muss. Ich wüsste aber auch nicht, was ich über eine leiwand-funktionierende Familie erzählen könnte“.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Im Song „Tulln“ beschreibt Voodoo auch das Schicksal seines Vaters: „91' is da Voda in Hefn marschiert / In da Zeidung is gstondn, woa groß inseriert / Für de ondan Kinda woas a gfundenes Fressn […]“. Heute meint er, nicht jeder in seiner Familie wäre einverstanden gewesen, dass er dieses Thema prominent aufkocht. Doch Voodoo brauchte Reife und Distanz, um diesen Rückschlag in seiner Kunst aufzuarbeiten. Das Packerl, das er mit sich trägt, habe sich aber erleichtert.

Voodoo Jürgens live:
02./03.12., Wien, Arena
04.12., Salzburg, Rockhouse
05./06.12., Innsbruck, Treibhaus
07.12., Saalbach, Bergfestival
11.12., Linz, Posthof
12.12., St. Pölten, Cinema Paradiso
13.12., Graz, Orpheum
20.12., Ebensee, Kino Ebensee

Happy End in der Knochenbar

Am Ende eines langen Nachmittages gehen wir noch auf ein Seidel in die Karnerstube aka „Knochenbar“. Das Raucherbeisl ist ein Wohlfühlort für die Charaktere aus Voodoos Songs. Neben dem Kachelofen hängen Herrenkalender mit halbnackten Damenkörpern (vom Wirten?), an der Terrassenmauer meditiert ein gemalter Buddha (von der Wirtin?) und aus den Boxen singt Falco. In der Schulzeit ist Voodoo hier immer in der Zehnerpause einmarschiert und hat für die gesamte Klasse Chips und Popcorn eingekauft.

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

„Pummerslucken und Karnerstuben“ zitiert ein Herr an der Bar Voodoos Song „Tulln“ und prostet wohlwollend in seine Richtung. Was der Tullner mit dem Song verbindet? „Leiwand. Ich bin ein Fan. So wie er aufgewachsen ist, so soll es sein". Voodoo bedankt sich lächelnd, ungewiss, wie er mit solchem Lob aus der Vergangenheit umgehen soll.

Dass sich Stadtbürger*innen im Song „Tulln“ wiederfinden, obwohl dieser damals auch als Abgesang auf deren Kleingeistigkeit geschrieben wurde, kann er heute als Genugtuung akzeptieren. Irgendwie versöhnt es dann doch, wenn er auf der Straße mit „Servas, Superstar“ begrüßt wird oder eine Frau mit Hund um ein gemeinsames Selfie bittet (mit Hund).

Mit Voodoo Jürgens durch Tulln

Florian Wörgötter

Die Schlussfrage, wie Tulln klingen würde, wenn es ein Musikstück wäre, hat Voodoo im Songtext zu „Tulln“ bereits bestens beantwortet. Doch welche Klänge prägen den Sound der Gartenstadt an der schönen blauen Donau? „Ein plärrender Kinderchor, ein besoffener Fußballverein, begleitet von Akkustikgitarren und leiser Kirchenorgel. Und am Ende fährt die Eisenbahn drüber.“

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