FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Szenenbild "EMA"

Viennale

Viennale: Lauter a-capella Hits!

Die Mafia, Reggaeton, der lange Arm von „Twin Peaks“ und die Viennale-Schlange. Ich hab immer noch nicht im Kino geweint bei der diesjährigen Viennale, dafür aber ohrwurmtechnisch schon spitzen Songs eingesammelt.

Von Pia Reiser

Regisseurin Jessica Hausner kommt direkt von der „Marriage Story“ Vorführung zum Interview. Film sei super, sagt Hausner. Auf meine Frage, ob sie weinen musste, reagiert sie leicht irritiert. Nein, sagt Hausner. Meine Freundin H. hingegen sagt den montagabendlichen gemeinsamen Besuch von „EMA“ ab, weil ihr „Marriage Story“ noch so schwer im Magen liegt.

Während Christian Fuchs über „A Hidden Life“ schwärmt, treffe ich in Reihe Drei des Gartenbaukinos bei der Vorstellung von „EMA“ auf Kollegen Johnny Bliss, der bereits sagenhafte 19 Filme auf der Viennale gesehen hat - und „A Hidden Life“ ist ganz unten auf seiner Liste zu finden.

„Everything that you could say is shit about Malick pressed into one movie“, so Bliss. Das ist ja unter anderem das beste an der Viennale - oder halt überhaupt an Filmfestivals - dass man im Direktvergleich die verschiedenen nicht nur Meinungen sondern ausgelösten Gefühlszustände von Menschen mitkriegt.

Ich hab „Marriage Story“ immer noch nicht gesehen, gehe aber fix davon aus, dass ein Tränenmeer fließen wird. I keep you posted.

Zum Interview mit Hausner zu ihrem neuen Film „Little Joe“, der auf der Viennale gelaufen ist und diese Woche auch gleich in den österreichischen Kinos startet, trag ich ein Blumenkleid. Und erst als ich mit Hausner über ihren Film spreche, in dessen Mittelpunkt eine Pflanze steht, deren Duft glücklich machen soll, merke ich, dass mein Unterbewusstsein auch mein Stilberater ist.

Little Joe Filmstills

coop99

Little Joe

Bis jetzt also überhaupt noch nicht geweint auf der Viennale, das ist neu. Gehustet und geschneuzt wird übrigens auch weniger im Kinosaal, es ist ja erst seit Montag kalt. Keine Sorge, die Updates über die etwaige Absonderungen via Sinnensorgane sind fast erledigt. Doch eines noch: Ein zorniger Wutrauch aus beiden Ohren, wie bei Bewohnern von Entenhausen ist S. im Kinosaal bei „Die Mafia ist nicht mehr das, was sie mal war“ enfleucht - und er ist dann auch gleich dem Film entfleucht. Die gescriptete Dokumentation von Franco Maresco ist one of a kind. Zum Ausgangspunkt nimmt Maresco, dass es 25 Jahre her ist, dass die Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Pablo Borsellino vor 25 Jahren bei Attentaten durch die Mafia ermordet worden sind. Zu Wort kommt - allerdings zu wenig - die Fotografin Letizia Battaglia, die jahrzehntelang die Verbrechen der Mafia dokumentiert hat.

Doch Maresco ist ein bisschen zu selbstverliebt in seine satirischen Spleens. Cicco Mira, der schmierige Veranstalter mit Nähe zur Mafia taucht - wie schon in Marescos Film „Belluscone“ - auf, immer in schwarz-weiß, auch wenn der Rest des Bildes in Farbe ist.

Mira will nun in Palermos verrufenstem Stadtteil ZEN ein Straßenfest zum Gedenken an Falcone und Borsellino organisieren. Oft ist die groteske, die Überhöhung oder eben auch eine Mockumentary eine geeignete Art sich einem Thema zu nähern. Doch Marescos Film präsentiert sich wirr und setzt dann auf einen auch nur mäßig guten running gag und lässt einen ratlos zurück. Selten hätte man so dringend einen Regisseur für ein Q&A gebraucht wie hier!

„I need an Q&A“ postet jemand auch nach dem Screening des Genre-Melange-Biests „Bacuarau“, glücklicherweise ist Julianno Dornelles Gast der Viennale und nach der Vorstellung anwesend. Allerdings hat offenbar niemand gefragt, worum es geht.

Szenenbild "The Traitor"

Viennale

„Il Traditore“

Richter Falcone spielt übrigens auch einen nicht unwichtigen Part im getragenen Epos namens „Il Traditore“ über Tomasso Buchetta, der in den 1980er Jahren den Schweigecode der Mafia bricht und vom Mafiaboss zum Kronzeugen in den sogenannten Maxi-Prozessen wird. Ein Film, der die Opulenz italienischer Familienfeste genauso zu inszenieren weiß wie die Nüchternheit eines Gerichtsverfahrens.

„Die Zeit“ fragt sich 1987, nachdem hunderte Angeklagte verurteilt worden sind, ob die „Schlangenköpfe wieder nachwachsen werden“. Auch die Schlange am Viennale-Plakat ist kopflos (auch der Flamingo auf den Sujets im letzten Jahr war meistens ohne Kopf abgebildet), auf der Eröffnungsgala im Rathaus hatte ein Mann eine Stofftierschlange um seine Viennale-Tasche gebunden. Auch im Stadtparkund im Stadtkino wurde sie gesichtet, so tweetet die Viennale selbst. Schönstes gepostetes RegisseurInnen-Foto bis jetzt: Albert Serra im Park.

Szenenbild "Knives and Skin"

viennale

„Knives and Skin“

Ab und an eine kleines Flanierscrollen via #viennale-Hashtag zahlt sich aus, so kriegt man auch Storyboards von Regisseur Dan Salitt zu sehen, dessen Film „Fourteen“ auf der Viennale zu sehen ist (und für den wir Tickets in der heutigen Viennale Homebase Spezial verlosen).

Rein ohrwurmmäßig ist a-capella dieses Jahr King auf der Viennale, nicht nur hab ich das am Lagerfeuer gesungene Lied aus „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ immer noch im Ohr, es mischt sich durch mit den schön-gespenstischen Chorversionen von 1980er Jahre Pop-Hits aus Jennifer Reeders neonerleuchtetem Teen Noir „Knives and Skin“. „Twin Peaks“ ist hier storytechnisch und visuell nur einen Steinwurf entfernt.

Die Abgründe einer Kleinstadt tun sich nach dem Verschwinden einer Schülerin auf. Ein Clown mit rosa Perücke, leuchtende Wunden, leuchtende Brillengestelle, auf Autos geworfenes Faschiertes: „Knives and Skin“ ist herrlich merkwürdig, doch im Kern eine Ode an weibliche Solidarität und Freundschaft. "“My films almost always suggest that female friendship is a strategy for survival.”, so Reeder hier. Auch Reeder kommt heute in der FM4 Homebase Spezial zu Wort.

Szenenbild "EMA"

Viennale

Weil ich mir jeden Film anschaue, der die klitzekleine Chance einer Tanzszene in sich trägt, lande ich in „EMA“, dass hier Pablo Larrain Regie geführt hat, erleichtert natürlich die Entscheidung.

„EMA“ ist rein kurzbeschreibungstechnisch ein tear jerker: Ein Paar gibt ein 5-jähriges Kind, das es kurz zuvor adoptiert hat, zurück. Doch die Frau - die titelgebende Ema - entscheidet sich dann wieder um. Doch, es wäre nicht Larrain, wäre hier nicht alles anders als eine Zusammenfassung andeuten kann. Denn das Kind, Polo, lernt man zunächst nur aus Erzählungen kennen und diese Erzählungen werden wohl beim Publikum den potentiellen Kinderwunsch nach hinten geschoben haben.

„EMA“ erzählt von einem entfremdeten Ehepaar, das scheußliches Schuldzuweisungs-Ping-Pong in Dialogform führt, bis Ema sich schließlich freispielt und eine kleine Rebellion startet. Dazu braucht sie einen Flammenwerfer, Reggaeton und einen fast seifenopernwürdig ausgefuchsten Plan. Es ist bei „EMA“ schön zu sehen, wie Larrain einen aufs Glatteis führt, die Tanzszenen sind hypnotiserend - und auch das Gesicht seiner Hauptdarstellerin. Mariana Di Girolamo schafft es gleichzeitig wie Mavi Phoenix und Kim Novak in „Vertigo“ auszusehen. Nach dem Film bin ich zwar weder bewegt, noch geführt, noch aufgewühlt oder gar wütend, aber ich hab einen neuen Ohrwurm, ausnahmsweise nicht a-capella.

Aktuell: