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Berlin-Serie zum Bingen: „Schicksalsjahre einer Stadt“

Der RBB widmet dem Berlin der Mauerzeit eine Serie mit Suchtpotenzial.

Von Christian Lehner

Es gibt diesen Witz in Berlin, dass die Dokus, Serien und Spielfilme über die Mauer in ihrer Gesamtheit mehr Zeit ergeben, als der „Antifaschistische Schutzwall“ tatsächlich existierte.

Die Obsession der Berliner mit „ihrer Mauer“ ist so ausgeprägt, man könnte meinen, der öffentlich-rechtliche Lokalsender RBB (Rundfunk Berlin-Brandenburg), der aus einer Fusion von Ost- und Westsendern hervorgegangen ist, hätte eine Sonderabteilung eingerichtet, die sich einzig und allein um die Aufarbeitung der Mauerzeit und Wendejahre kümmert.

Pünktlich zu den Jubiläen - und auch dazwischen - werden jedes Mal aufs Neue Steine umgedreht, Zeitläufe und historische Orte vermessen und die Schicksale einzelner Personen erzählt.

Mauerfall

APA/dpa/Peter Kneffel

40 Stunden Mauerstadt

Der neueste Streich hört auf einen Titel, der österreichischen Zuseher*innen mit Bewusstsein für Film- und TV-Geschichte bekannt vorkommen dürfte. Die RBB-Produktion Schicksalsjahre einer Stadt (hier im Stream) handelt aber nicht von einer traurigen Kaiserin in einem großen Schloss, sondern von einer Diva mit Riss im Kleid, um die sich die Welt des Kalten Krieges drehte.

Sendungsbild Interview Podcast

Radio FM4

Der Berliner Rapper Romano aus dem Ostteil der Stadt über die Mauer, das Davor und das Danach hier im FM4 Interview Podcast

In 29 Folgen werden die Jahre 1961 (Mauerbau) bis 1989 (Mauerfall) in jeweils 90 Minuten abgehandelt. Chronologisch hanteln sich die „Schicksalsjahre“ mit den für Geschichtsdokus üblichen Zutaten entlang der Timeline. Archivmaterial aus dem Ost- und Westfernsehen wird mit Kommentaren von Zeitzeugen versehen und in die Gegenwart geholt.

Durch die aktuelle Staffel, die sich der zunächst grauen und dann immer bunteren 1980er-Jahre annimmt, führt die Erzählstimme der Schauspielerin Katja Sass („Good Bye, Lenin“, „Weißensee“).

Die Serie pendelt zwischen der großen politischen Bühne und dem Alltag der Ost- und Westberliner*innen. Die bleierne Schwere des Kalten Krieges wird durch Ausflüge in die Popkultur aufgehellt. Neben dem Reichtum an Details, Einblicken und Fakten ist der Fokus auf die verschiedenen Lebenswelten von Ost und West ein großer Pluspunkt der Serie.

Bingen mit Honecker

Es tut sich ein wahres Panoptikum auf (die Bezeichnung ist bewusst an den Titel einer legendären ORF-Sendung angelehnt). Kuriose, trashige und wunderbare Moden, Ereignisse und Menschen stehen im Kontrast zum korrupten Wirtschaftsleben und den starren ideologischen Fronten.

Battaillon d’Amour von der DDR-Band Silly war einer der wenigen Songs, die auch im Westen zum Hit wurden.

Besonders deutlich wird der unsouveräne Umgang der DDR-Führung mit dem Thema Popkultur. In politischen Tauwetterphasen erlaubte das Regime zwar die Übernahme von Trends aus dem Westen, doch Honecker und Co. überwachten die Linientreue der DDR-Jugend mit der Faust in der Manteltasche – mit zum Teil nicht unkomischen Konsequenzen. Als zum Beispiel Mitte der 1980er-Jahre das Breakdance-Fieber die DDR erreichte, stufte der Kulturbund die lokale Crew The Melodics als „staatlich anerkanntes Volkskunstkollektiv“ ein.

Breakdance als Volkskunst

Mit der Ausstrahlung des US-Breakdance-Films Beat Street (1984) in den Kinos der DDR hoffte das Politbüro indes einen Abschreckungseffekt zu erzielen. Die dargestellten Slums in New York sollten dem in der FDJ (Freie Deutsche Jugend) organisierten Nachwuchs die Schattenseiten des Kapitalismus demonstrieren. Der Film bewirkte das Gegenteil und bald schossen die Crews aus dem grauen Boden der Deutschen Demokratischen Republik wie die Pilze aus der Schorfheide.

DDR Breakdance Crew

Frank Salewski

The Melodica bei einem Breakdance-Battle in Hoyerswerda (1987)

Konnte man einen „zersetzenden“ Trend nicht verhindern, förderte man schaumgebremste Pendants, die durch eine eigene Namensgebung die kulturelle Eigenständigkeit der DDR beweisen sollten.

Nena aus dem Westen, Nena aus dem Osten

Das Gegenstück zum Twist der 1960er-Jahre war der sogenannte Lipsi. Aerobic hieß in der DDR „Pop Gymnastik“. Ein DJ wurde als „SPU“ (Schallplattenunterhalter) bezeichnet. Nina Hagen war noch nicht Punk, aber schon frech. Das Jugendradio DT64 durfte etwas edgy sein. Bands wie die Puhdys spielten Rock mit Zügeln. Es gab eine DDR-Nena, DDR-Beatles (Sputniks) und sogar einen DDR-Winnetou. Wer aufmuckte, wurde mit Auftrittsverboten belegt, abgeschoben oder ausgebürgert - Bettina Wegner, Stephan Krawczyk und Wolf Biermann können ein Lied davon singen.

Ex-Ton-Stein-Scherben-Sänger Rio Reiser mit „Der Traum ist aus“. Der Song wurde vom DDR-Fernsehen vor der Ausstrahlung des Konzerts rausgeschnitten.

Der Popfaktor ist nur einer von vielen Gründen, warum man „Schicksaljahre einer Stadt“ sehen sollte. Die Serie hat Suchtpotenzial und war bei der Ausstrahlung im RBB-Fernsehen ein Quotenerfolg.

Die „Schicksalsjahre“ zeigen, wie schwer die Berliner*innen von der Mauerzeit lassen können. Während die letzten baulichen Spuren längst dem Tourismus übergeben wurden und man über Mietendeckel, Verkehrschaos und das Berliner Fußballderby diskutiert, sitzen die Erfahrungen und Prägungen der Mauerzeit noch immer tief.

30 Jahre Mauerfall

Schon mal was von Radio DT64 gehört?
DT64 hieß der Jugendradiosender in der DDR. Ein bisschen das DDR-Pendant zu FM4 also, nur unter ganz anderen politischen Umständen. (Stefan Elsbacher)

Nachwendekinder
Der Journalist und Autor Johannes Nichelmann begibt sich in seinem Buch „Nachwendekinder - Die DDR, unsere Eltern und das große Schweigen“ auf die Suche nach den Wurzeln seiner Generation. (Ambra Schuster)

Neue Staffel über die 1990er-Jahre

Immerhin endet die Serie – wohl auch aufgrund des großen Erfolges – nicht wie üblich mit dem Fall der Mauer und der anschließenden Wiedervereinigung. Am 16. November startet die vierte Staffel, die sich den Berlin-Jahren 1990 bis 1999 widmet. Kann sich eigentlich noch jemand an diese Zeit erinnern?

Den History-Nerds unter euch sei auch die RBB-Serie Chronik der Wende empfohlen. In 163 Folgen werden 163 Tage Wendezeit aufgerollt. Über Pläne zur Produktion eines Minutenprotokolls ist noch nichts bekannt.

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